Weihnachten könnte eine willkommene Auszeit vom Arbeitstrott sein, doch in einer aktuellen Studie der Techniker Krankenkasse (TK) gaben 30 Prozent der Befragten an, dass sie die Zeit vor den Feiertagen stresst. Jedem Zehnten treibt bereits der bloße Gedanke an die anstehenden Weihnachtsvorbereitungen den Angstschweiß auf die Stirn.
Am Arbeitsplatz ist die Situation keineswegs besser: Zu oft erweist sich die viel beschworene Work-Life-Balance als Märchen. Firmen schreiben zwar gerne in ihre Hochglanzbroschüren, dass Arbeit und Freizeit im Gleichgewicht sind und sich Familie und Karriere mühelos verbinden lassen, doch gleichzeitig drücken sie ihren Angestellten ein Smartphone in die Hand, damit sie auch am Wochenende "nur für Notfälle" erreichbar sind. Ganz nebenbei senken die Firmenlenker ihre Kosten, indem sie die Aufgaben von fünf Mitarbeitern auf die Schultern von zweien packen.
Gefühlter Stress nimmt zu
Diese Widersprüche hinterlassen Spuren. Wie die TK-Studie zeigt, nahm das subjektiv empfundene Stress-Niveau zu. Zwei von drei Befragten gaben an, dass ihr Leben heute stressiger sei als vor 15 oder 20 Jahren. Ein zu großes Arbeitspensum ist der am häufigsten genannte Belastungsfaktor am Arbeitsplatz, gefolgt von Termindruck und Hetze. Außerdem fühlen sich mehr als sechs von zehn Berufstätigen von den ständigen Unterbrechungen gestört, und vier von zehn beklagen sich über die Informationsflut in Form von Anweisungen oder E-Mails. Etwa 20 Prozent stören die ständige Erreichbarkeit sowie zu wenig Handlungsspielraum.
Ulrich Renz seziert in seinem Buch "Die Tyrannei der Arbeit" genau dieses Phänomen. Während unsere Väter noch mit Thermoskanne und Stullen zur Arbeit gingen und abends wirklich Feierabend machten, verwischen heute die Grenzen. In vielen Branchen ist es üblich, das Feierabendbier mit den Kollegen zu trinken und ansonsten immer erreichbar zu sein. Auch der Segen der technischen Gadgets, die das Leben erleichtern, verwandelt sich manchmal in einen Fluch, nämlich dann, wenn die Eigentümer nicht den Aus-Schalter finden, "mit dem die Geräte erstaunlicherweise immer noch serienmäßig ausgestattet sind", wie der Autor ironisch anmerkt. Renz predigt keineswegs das Nichtstun, doch er liefert genug Material, die modernen Arbeits- und Karriere-Mechanismen zu überdenken.
Bleibt von der vielzitierten Work-Life-Balance nur heiße Luft übrig? Oder ist es sowieso Unfug, zwischen Arbeit und Leben zu trennen, wie Thomas Vašek, Chefredakteur des Philosophie-Magazins "Hohe Luft" in seinem Buch "Work-Life-Bullshit. Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt" behauptet? "Wir brauchen Arbeit für ein gutes Leben" lautet die schlichte und gleichzeitig überzeugende These des Autors.
Bücher zum Thema Arbeit
Thomas Vašek: Work-Life-Bullshit. Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt. Riemann Verlag, München 2013, 288 Seiten, 16,99 Euro. Auch als E-Book verfügbar.
Ulrich Renz: Die Tyrannei der Arbeit. Wie wir die Herrschaft über unser Leben zurückgewinnen. Ludwig Verlag, München 2013, 271 Seiten, 17,99 Euro.
Frauen sind glücklicher als Männer
"Arbeit gibt dem Leben einen Rahmen, eine Struktur, die Verbindlichkeiten erzeugt und unser Handeln Regeln unterwirft", schreibt Vašek, und wer nicht arbeitet, verpasst die Chance, seine Fähigkeiten zu nutzen und sich weiterzuentwickeln. Ganz vehement widerspricht er der Dualität von Arbeit und Freizeit, die er als "Work-Life-Bullshit" angreift. Wer Arbeit nur als "dumpfe Notwendigkeit und Entfremdung" definiert und dem das "lichte Reich der Freiheit" gegenüberstellt, in dem Selbstverwirklichung möglich sei, der hat nichts kapiert, behauptet der Autor. Oder diese Leute haben einfach den falschen Job, ließe sich ergänzen, denn nicht jeder Call-Center-Mitarbeiter, der am Helpdesk die Kollegen unterstützen soll, geht voll und ganz darin auf, manchen Nutzern täglich mehrmals zu erklären, dass sie ihren Computer keineswegs ruiniert, sondern nur versehentlich ausgeschaltet haben.
Doch viele Arbeitnehmer hierzulande würden wohl dem Argument zustimmen, dass zu einem guten Leben auch gute Arbeit gehört. Gute Arbeit bedeutet für Vašek beispielsweise Sinn im eigenen Tun zu sehen, Spaß an der Arbeit zu haben, eine gerechte Entlohnung, weder Unter- noch Überforderung. Doch trotz aller Unzufriedenheit und allem Jammern über den Job bestätigt die TK-Stressstudie diese Annahme, denn 71 Prozent der Befragten sagten, dass ihnen ihre Arbeit Spaß macht und sie sie als wichtigen Teil ihres Lebens betrachten. Frauen sind tendenziell (78 Prozent) glücklicher mit ihrem Job als Männer (66 Prozent), und 80 Prozent der Bundesbürger in Ostdeutschland macht ihre Arbeit Freude.
Braucht es also mehr liberale Chefs und Firmenlenker, die ihren Angestellten vertrauen, die Arbeitslast reduzieren, und alles wird gut? Mehr Flexibilität und Rücksichtnahme fordert auch Jutta Rump. Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Professorin, die an der Hochschule Ludwigshafen Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Internationales Personal-Magement und Organisationsentwicklung lehrt, mit Zukunftsfragen der Arbeit. "Der Begriff Work-Life-Balance hat sich verändert durch die lange Lebensarbeitszeit, hohe Flexibilität und die Generation der heute 25- bis 35-Jährigen" meint Rump und ergänzt: "Die Abgrenzung und Trennung Arbeit versus Freizeit ist für die über 50-Jährigen wichtig, doch für die Jüngeren zählen Aspekte wie die Freude an der Arbeit, Sinnhaftigkeit und Freiräume mehr als feste Arbeitszeiten und ein freies Wochenende."
Mail-Server abschalten bringt nichts
Deshalb laufen Aktionen, wie sie einige Konzerne zur Entlastung ihrer Angestellten anbieten, etwa den Mail-Server nach Dienstschluss abzuschalten, ins Leere. "Diese Generation lebt einen digitalen Lebensstil und ist von solchen Aktionen irritiert. Außerdem finden sie Wege, die solche Restriktionen umgehen", argumentiert Rump.
Besonders Führungskräften verlangen laut Rump diese unterschiedlichen Erwartungen der Belegschaft einiges ab. Manche (ältere) Mitarbeiter fühlen sich gestresst, wenn sie auch am Wochenende einen Blick in ihren Posteingang werfen sollen, (viele) Jüngere tun das ganz selbstverständlich. Mehr Eigenverantwortung, selbständiges Arbeiten und flexiblere Arbeitszeiten, wie es sich jüngere Mitarbeiter wünschen, kämen auch den älteren Beschäftigten zugute. Moderne und wettbewerbsfähige Unternehmen müssten sich diesen Aufgaben stellen, denn Balance bedeutet für viele Angestellte, dass sie freier über ihr Arbeits- und Privatleben entscheiden können, da die strikte Trennung aufgelöst sei. (hk)