Mit dem sogenannten Multi-Channel-Ansatz hat der stationäre Handel einen wichtigen Trumpf im Ärmel. Durch eine Integration von stationärem und elektronischem Handel kann ein Multi-Channel-Händler seinen Kunden Mehrwerte anbieten, die weder von den reinen Online-Anbietern noch von ausschließlich stationär aufgestellten Einzelhändlern geboten werden können. Multi-Channel-Prozesse setzen allerdings eine geeignete IT-Infrastruktur voraus.
Das Mittel der Wahl auf dem Weg zum E-Commerce ist für die stationären Einzelhändler heute oft ein - durchaus leistungsfähiger - Webshop von spezialisierten Dienstleistern, die diese Systeme als On-Demand- oder On-Premise-Installation anbieten. Dabei sind die häufig auftretende enge Fokussierung sowie die hohe Spezialisierung dieser Anbieter auf E-Commerce gleichzeitig Chance und Risiko für den Händler: Chance, weil diese Dienstleister in der Regel über hohe Fachkompetenz und viel Erfahrung im Online-Handel und den zugrunde liegenden Technologien verfügen. Risiko, weil genau dieser Fokus dazu führen kann, dass zwar ein leistungsfähiger Webshop entsteht, dieser jedoch zu wenig in die weitere Prozess- und Systemlandschaft des Einzelhändlers (zum Beispiel CRM, Logistik, Finanzmanagement) integriert wird.
Mit einer mangelnden Integration des Webshops in die bestehenden Systeme des stationären Einzelhandels werden bereits von Beginn an die Möglichkeiten stark eingeschränkt, Multi-Channel-Prozesse zu betreiben, die eine der wenigen Differenzierungsmöglichkeiten im E-Commerce darstellen.
Betrachten wir zunächst aus der großen Menge von neuen Prozessen, die bereits heute durch die Symbiose von E-Commerce und stationärem Einzelhandel entstanden sind, exemplarisch vier grundlegende Services auf der Geschäftsprozessebene, mit denen sich Multi-Channel-Anbieter sowohl vom Online-Händler als auch vom reinen stationären Handel positiv differenzieren können.
"Click 'n' Collect": Häufige Ursache für die rückläufige Entwicklung im stationären Einzelhandel ist der sogenannte Frequenzrückgang. Immer weniger Menschen kommen in die stationären Ladenlokale des Einzelhandels. Damit schrumpft die direkt erreichbare Kundenbasis, und daraus resultierend sinkt der Umsatz. Der Multi-Channel-Händler kann dem Frequenzrückgang allerdings durch verschiedene Maßnahmen entgegenwirken. Ein gängiger Prozess dafür trägt im Fachjargon den Namen "Click 'n' Collect", aus Sicht des Händlers auch "Ship2Store" genannt. "Click 'n' Collect" beschreibt das Angebot an den Konsumenten, online bestellte Ware im stationären Ladenlokal abzuholen. Ein Kunde, der sich bereits online für den Kauf eines konkreten Produktes entschieden hat und nun in ein Geschäft kommt, um seine Ware abzuholen, bietet erhebliches Potenzial für Cross- und Up-Selling, das nur dem Multi-Channel-Händler zugänglich ist. Weder ein ausschließlich stationär agierender Händler noch ein ausschließlich online agierender Einzelhändler kann Click 'n' Collect anbieten.
"Click 'n' Return": Eine weitere Option, dem Frequenzrückgang im stationären Handel entgegenzuwirken und Umsatzpotenziale zu heben, ist das Angebot, online bestellte Ware bei Nichtgefallen auch im stationären Handel umtauschen zu können. Dass ein Umtausch ein Umsatzpotenzial darstellt, mag sich zunächst widersprüchlich anhören, ist aber auf den zweiten Blick leicht zu belegen. Der Kunde, der die Ware im stationären Handel umtauscht, begibt sich in ein Ladenlokal des Einzelhändlers und liefert dem Verkaufspersonal vor Ort wertvolle Informationen, da der umzutauschende Artikel Hinweise auf seine grundsätzlichen Produktpräferenzen und sein Budget offenlegt. Qualifiziertes Verkaufspersonal kann diese Hinweise nutzen, um einen Alternativkauf zu erwirken. Die Option, einen Umtausch nach einem Online-Kauf ganz oder teilweise zu kompensieren, steht nur dem Multi-Channel-Händler zur Verfügung. Der reine stationäre Händler hätte bereits den ersten Verkauf an diesen Kunden nicht getätigt, der reine Online-Händler hätte lediglich eine Rücksendung von diesem Kunden erhalten.
"Shelf-Extension": Zwei große Vorteile der Online-Dhops aus Sicht der Käufer sind das große Produktangebot und die oft besseren Informationen zu Produkten und Preisen. Der Multi-Channel-Händler kann dem Wunsch nach einer großen Auswahl und umfassenden Informationen zu seinen Produkten entsprechen, indem er den eigenen Webshop für den Kunden direkt vor Ort verfügbar macht. Dies kann durch in den Verkaufsräumen bereitstehende Kiosk-PCs oder Tablets, aber auch durch die Bereitstellung eines WLANs mit dem eigenen Webshop oder der eigenen Homepage als Startseite erreicht werden. Der Einzelhändler ermöglicht den Kunden oder Interessenten so, sich während des Aufenthalts im Ladenlokal sowohl weitere Produktvarianten, für die gegebenenfalls in dem jeweiligen Ladenlokal der Platz nicht ausgereicht, anzusehen als auch zusätzliche Informationen zum Produkt abzurufen. Die Möglichkeit, die Stärken des stationären Handels wie persönliche Beratung oder "touch & feel" mit einer hohen Informationsverfügbarkeit und einem großen Sortiment zu kombinieren, steht ebenfalls nur dem Multi-Channel-Händler zur Verfügung.
"Check and Reserve": Bei variantenreichen Produkten, etwa Textilien, die in unterschiedlichen Farben und Größen erhältlich sind, besteht im stationären Handel aufgrund der in der Regel begrenzten Lagerhaltung das Risiko, dass ein potenzieller Kunde den gewünschten Artikel nicht in der von ihm bevorzugten Variante (etwa bezüglich Größe und Farbe) vorfindet. "Check and Reserve" beschreibt den Multi-Channel-Prozess, der dieses Risiko erheblich minimiert oder ganz vermeidet. Dabei wird der Kunde in die Lage versetzt, online, das heißt von seinem PC, Tablet oder Smartphone aus, den Bestand des gewünschten Produktes in dem Ladengeschäft, das er besuchen will, im Voraus einzusehen und den Artikel - sofern verfügbar - zu reservieren. Laut einer gemeinsamen Studie der Universität Niederrhein und Accenture gibt es in England bereits Multi-Channel-Händler, beispielsweise den großen "Vorzeige"-Multi-Channel-Händler Argos Ltd., die mit "Click and Reserve" mehr Umsatz erwirtschaften als mit reinem Online-Handel. Auch "Check and Reserve" ist ein Prozess, der ausschließlich Multi-Channel-Händlern möglich ist.
Ohne IT geht es nicht
Bei den vier genannten grundlegenden Prozessen, mit denen sich Multi-Channel-Händler sowohl vom klassischen stationären Einzelhandel als auch von den reinen Online-Händlern differenzieren können, handelt es sich wie gesagt um relativ einfache, grundlegende Prozesse. Dennoch lassen bereits diese relativ simplen Beispiele erahnen, dass keiner dieser Prozesse ohne eine geeignete IT-Unterstützung effizient betrieben werden kann.