2. "Minimum Viable Products" statt 110-Prozent-Lösungen
Bisherige Veränderungs- und Transformationsprojekte sind und waren auf einen langen Zeitraum ausgelegt. Ursache war der Umfang der Veränderung beziehungsweise die Größe des zu erstellenden Produkts. Der typisch deutschen Mentalität entsprechend besteht der Anspruch darin, eine rundum perfekte Lösung zu liefern. Perfektion kostet Zeit - und am Ende ist der Erfolg des perfekten Produktes in den Zielmärkten ungewiss.
Das neue Credo heißt deshalb, sich erst einmal auf Veränderungen mit dem höchsten Kundennutzen zu konzentrieren (auf neudeutsch: Minimum Viable Produkt (MVP). Mit diesem Ansatz werden zwei Ziele verfolgt:
1. Schnelles Durchlaufen einer Lernkurve, die erfahrungsgemäß am Anfang immer am Größten ist.
2. Feedback vom Kunden, um auf Basis eines minimalen Investments Erfahrungen zu sammeln. Das Feedback der Kunden zeigt, ob die Lösung (zum Beispiel das Produkt) erfolgversprechend ist und weiterentwickelt werden soll. Ladenhüter werden damit sehr schnell erkannt und eliminiert.
Mit dem MVP geht eine signifikante Verkürzung der Zeit bis zum Marktauftritt ("Time to Market") einher. Durch die Fokussierung auf die wesentlichsten Produktbestandteile anstelle einer 110-prozentigen Lösung wird wertvolle Zeit gespart. Es kann bereits nach wenigen Wochen erkannt werden, ob ein Produkt am Markt erfolgreich ist und nicht erst nach mehreren Monaten oder sogar Jahren.
Dies trägt den veränderten Herausforderungen der Märkte mit einem hohen Fokus auf Geschwindigkeit Rechnung. Darüber hinaus kann die Anzahl an verprobten Ideen gesteigert werden, da eine Verprobung lediglich wenige Wochen in Anspruch nimmt und das erforderliche Budget überschaubar bleibt.
Dies erfordert eine Umkehr im Denken: Ein Versagen am Markt ist nicht als Versagen sondern als Lernchance zu verstehen ("Fail fast - fail often"). In manchen Fällen ist diese Erfahrung wertvoller als Teilerfolge erzielt zu haben.
3. "Stop Starting - Start Finishing" reduziert den "Work in Progress"
In großen Organisationen ist es eine große Anzahl an laufenden Projekten üblich. Wenn mehr Projekte gestartet als beendet werden, führt dies zu einem Wachstum unfertiger Arbeit. Genau wie bei einem Verkehrstau auf der Straße, ist der Projektstau ein Symptom überlasteter Kapazität. Die Lösung besteht nicht immer im Bau von breiteren Straßen. Und spätestens seit Fred Brooks wissen, wir, dass das Hinzufügen von Ressourcen zu einem verzögerten Projekt dieses noch weiter verzögert. Trotzdem neigen Organisationen dazu, immer weitere Projekte zu starten. Stattdessen ist es effektiver, weniger wichtige Projekte anzuhalten und die wirklich wichtigen bis zur deren Fertigstellung ohne Unterbrechung laufen zu lassen.
In Kanban heißt dieses Prinzip den "Work in Progress" (WIP) zu reduzieren. Die Begrenzung des Arbeitsvolumens hat sich als probates Mittel zur Reduktion von Rüstzeiten erwiesen. An jedem Arbeitsplatz darf nur eine begrenzte Anzahl an Aufgaben "offen" sein. Das jeweilige Limit an Arbeitsaufträgen ist dabei unternehmensspezifisch auf Basis von Kennzahlen zu.
Die Umsetzung des Prinzips ist im Management des Veränderungsportfolios zu verankern. Denn dort wird über Wohl und Wehe der Arbeitsbelastung entschieden. Vielfach zeigt sich dort allerdings das Prinzip des geringsten Wiederstands. Um viel "Good Will" zu zeigen, wird mit einem Projekt schon einmal begonnen - auch wenn wesentliche Erfolgsfaktoren wie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Ressourcen oft nicht gewährleistet sind. Dieser Praxis ist erst einmal Einhalt zu gebieten.
Disziplin, Disziplin, Disziplin
Im Zeitalter der digitalen Transformation neigen Unternehmen häufiig zu blindem Aktionismus oder zur Schockstarre. Beide Extreme helfen oft wenig weiter. Aktionismus wird oft mit Agilität verwechselt und Investitionen in offensichtlich sinnlose Ideen getätigt. Die Erfahrungen aus dem "Neuen Markt" lassen grüßen. Umgekehrt müssen Unternehmen ihre Schockstarre überwinden und ihre Silowelten aufbrechen. Dies gelingt nicht mit bekannten Managementmitteln, sondern erfordert einen disziplinierten und keinen chaotischen Ansatz. Agil zu sein ist wichtig in diesen Zeiten. Aber Agilität allein ist noch keine Qualität - die Richtung muss ebenfalls stimmen. Und manchmal kann ein Rat von Experten hier Wunder wirken. (haf)