"Bitte machen Sie mehr Platz, Bitte machen Sie mehr Platz." Nein, wer hier höflich, aber bestimmt Platz zum Durchkommen fordert, ist kein Kollege auf dem Weg zur Bar. Es handelt sich vielmehr um ein fahrerloses Transportsystem (FTS), das endlich seinen Arbeitsauftrag autonom erfüllen will, stünden da nicht die Besucher im Weg, die sich im Siemens Gerätewerk Erlangen (GWE) die digitale Transformation der Fertigungs- und Prozessindustrie in der Praxis anschauen.
Mit Virtual Reality in die Produktion
Eine Praxis, auf die man bei Siemens besonders stolz ist, denn im Gegensatz zu manchem US-amerikanischen Wettbewerber existierten die eigenen Lösungen für das Digital Enterprise nicht nur als Powerpoint-Folien, sondern befänden sich im realen produktiven Einsatz. In Erlangen produziert Siemens Geräte der Simatic-Reihe und setzt zur Effizienzsteigerung vom Produktdesign bis zur Produktfertigung auf die Digitalisierung. So werden etwa per Virtual Reality neue Geräte in der Simulation auf Hitzenester elektronischer Leistungsbauteile untersucht oder die automatische Produktionsfähigkeit per VR geprüft: Kann ein Roboter mit seinen Werkzeugen wirklich das entsprechende Bauteil montieren oder muss es anders angeordnet werden?
Industrie-Software durch Akquisitionen
Dabei erstreckt sich die Digitalisierung über die gesamte Wertschöpfungskette und umfasst Prozess- und Anlagendesign ebenso wie die eigentliche Produktion und Wartung der Fertigungsanlagen. Selbstredend nutzt der Konzern hierzu seine eigene Software und Techniken wie den Digital Twin oder Machine Learning. Schließlich hat der Konzern in den letzten Jahren laut Jan Mrosik, CEO der Division Digital Factory, auch kräftig durch Beteiligungen und Akquisitionen (wie etwa Mendix im Jahr 2018, Mentor Graphics 2017, Bentley 2016 etc.) in Software investiert. Offiziell wurden hierzu seit 2007 mehr als zehn Milliarden Euro investiert. Mittlerweile bezeichnet sich der Konzern daher selbst als die weltweite Nummer Eins in Sachen industrieller Software.
Messemotto Thinking Industry further
Der Einsatz von digitalen Zukunftstechnologien in der Fabrik- und Prozessautomatisierung bildet dieses Jahr den Themenschwerpunkt des Messeauftritts von Siemens auf der Hannover Messe Industrie (HMI). Lautete das Messemotto des Konzerns 2018 noch "Digital Enterprise - Implement now" heißt es nun "Digital Enterprise - Thinking Industry further". Mit dem Messemotto unterstreicht Siemens die Konzernüberzeugung, dass die Digitalisierung der Schlüssel zur Weiterentwicklung der Produktivität sei und es nicht mit einem einfachen IoT-Projekt etc. getan ist, sondern eine Änderung der gesamten Prozesskette vom Produktentwurf bis hin zum fertigen Produkt im realen Einsatz notwendig ist. Gleichzeitig will sich der Konzern als "Partner der Industrie für den digitalen Wandel" positionieren.
Hierfür zeigt der Konzern auf seinem Messe-Hauptstand in Halle 9 auf rund 4.000 Quadratmetern zahlreiche Erweiterungen seines Digital-Enterprise-Angebots für die digitale Transformation der Fertigungs- und Prozessindustrie. Großen Wert legt Siemens dabei auf branchenspezifische Lösungen. Insgesamt hat das Unternehmen 21 Branchen in der Prozess- und Fertigungsindustrie identifiziert, in denen man mit den eigenen Lösungen den digitalen Wandel vorantreiben will.
Und künftig nicht nur mit Software und Automatisierungstechnik, sondern auch mit Consultant-Leistungen. Dabei betont Mrosik, "ist unsere Beratungsleistung rein Shopfloor-, beziehungsweise fertigungsbezogen". Zum Selbstverständnis von Siemens zählt dabei auch, den Kunden sowohl für Greenfield- als auch Brownfield-Anlagen bei der richtigen Vorgehensweise für die digitale Transformation zu beraten.
Branchenlösungen für das Digital Enterprise
Allerdings wird Siemens in Hannover keine Use Cases für alle 21 Branchen präsentieren, sondern sich auf die sieben Segmente Food and Beverage (F+B), Automotive, Additive Manufacturing, Batteries, Chemicals. Pharma und Fiber konzentrieren. Am Beispiel der Automobilindustrie zeigt der Konzern etwa die Nutzung des Digital Twins, kombiniert mit Additiver Fertigung sowie innovativer Robotik. Genau betrachtet handelt es sich dabei um eine Zwillingsfamilie mit drei Mitgliedern: dem digitalen Zwilling des Produkts, dem Zwilling der Produktion sowie dem Zwilling der Performance, die über die Siemens-Kollaborationsplattform Teamcenter miteinander verbunden sind und so Informationen zwischen realer Welt und virtueller Welt austauschen.
Als IoT-Betriebssystem kommt hierzu MindSphere zum Einsatz. Dessen Nutzergemeinschaft MindSphere World zählt mittlerweile 90 Mitglieder, die ein Ökosystem an IoT-Apps und -Modulen aufbauen. Zur einfacheren Programmierung hat Siemens nun den Low-Code-Spezialisten Mendix an Bord. "Mit seiner Plattform und den dazugehörigen Tools und Services können Anwender ihre Apps bis zu zehnmal schneller erstellen", zeigt sich CEO Mrosik begeistert.