Umgang mit einem Tabu

Scheitern erlaubt!

05.08.2016
Von 
Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner. Der diplomierte Wirtschaftsingenieur ist u.a. Autor des "Change Management Handbuch" und zahlreicher Projektmanagement-Bücher. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal.

Ein Umdenken ist nötig

Außer den Köpfen der "Gescheiterten" würde dies auch die Köpfe vieler ihrer Kollegen wieder freier machen, die in der ständigen Angst leben: "Das darf mir nicht passieren, sonst...". Vermutlich würden solche Nächte oder Meetings einen Beitrag leisten dazu, dass Fehler als Chance gesehen werden und Personen, die auf dem Holzweg sind oder waren, sich und anderen offen eingestehen können: "Das ist zwar dumm gelaufen, doch ich habe daraus viel gelernt."

Auch die Personalverantwortlichen sollten umdenken. In vielen Unternehmen bedeutet zum Beispiel ein gescheitertes Projekt noch das Karriere-Aus. Also wird das sich abzeichnende Scheitern so lange verschwiegen bis die Fehlentwicklung zum Himmel stinkt, und mittelmäßige Ergebnisse werden so stark beschönigt, dass sie in gleißendem Licht erstrahlen. Und bewirbt sich ein gescheiterter Selbstständiger bei Unternehmen? Dann fassen ihn diese, wenn überhaupt, meist nur mit Glacéhandschuhen an. Dabei sollten solche Bewerber einen Bonus haben, denn sie zeigten Eigeninitiative und -verantwortung und wissen, wie man gewisse Dinge nicht machen sollte, wenn man erfolgreich sein möchte.

Eigentlich sollten die Personalverantwortlichen in den Unternehmen Bewerber - zumindest solche, die sich für eine Position bewerben, die viel Eigeninitiative und -verantwortung erfordert - in Vorstellungsgesprächen stets fragen:

- "Sind Sie in Ihrem (Berufs-)Leben schon einmal so richtig gescheitert?". Und:

- "Was haben Sie daraus gelernt?".

Und wenn auf der ersten Frage nichts kommt, dann sollten sie sich überlegen: Stellen wir diese Person wirklich ein? Denn dann hat der Bewerber für seine künftige Position sehr wichtige Erfahrungen noch nicht gemacht. Oder er hat sie verdrängt. Oder er lügt. In allen drei Fällen ist er wohl nicht der Richtige.

Auf Warnsignale achten und hören

Wenn wir das Tabu des Scheiterns auflösen möchten, muss sich auch unsere Reaktion auf Warn- oder Alarmsignale ändern. Meist reagieren Personen (und Organisationen) heute auf ein sich abzeichnendes Scheitern wie folgt:

Reaktion 1: Verdrängung.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Die Realität wird ausgeblendet, Warnsignale und Fakten werden verdrängt.

Reaktion 2: Augen zu und durch.

Dieses Verhalten registriert man oft bei Selbstständigen, deren Business scheitert. Statt Insolvenz anzumelden und an die Öffentlichkeit zu gehen, werfen sie gutem Geld schlechtes hinterher - häufig mit der Begründung: "Jetzt hab ich schon so viel investiert, da kann ich doch nicht einfach aufhören...". Augen zu und durch! Dieses Verhalten beobachtet man auch in Unternehmen - zum Beispiel bei Projekten. Spricht man mit Beteiligten über gescheiterte Projekte, dann sagen sie oft:

"Eigentlich war uns vor einem Jahr schon klar: Wenn wir unsere Strategie, unser Vorgehen, unsere Ziele nicht ändern, dann erleiden wir Schiffbruch." Doch Stopp sagen? Auf keinen Fall! Denn das wäre ein Eingeständnis des Scheiterns. Oft sind genau dies die Momente, in denen die Beteiligten dringend Unterstützung bräuchten: jemanden, um sich auszutauschen und neu zu finden. Doch fatalerweise sind genau dies auch die Momente, in denen viele von uns dicht machen, die Ohren zuklappen und nicht mehr aufnahmefähig sind. Augen zu und durch!

Es ist paradox: Gerade in Stress-Phasen, wenn wir einen klaren Kopf bräuchten, verlieren viele Menschen diesen; ebenso ihren messerscharfen Verstand und ihre Fähigkeit, sich zu entscheiden. Und genau dann, wenn sie die meiste Energie bräuchten, um Lösungen zu finden und neue Wege zu beschreiten, fehlt ihnen diese. Sich dessen bewusst zu sein, ist gerade für Führungskräfte wichtig - nicht nur um Mitarbeitern im Bedarfsfall die nötige Unterstützung zu gewähren. Auch ihr eigenes Befinden und Handeln müssen sie gut im Blick haben, damit sie merken, wenn etwas ins Un-gleichgewicht gerät und sich in ihrem Inneren solche warnenden Stimmen melden wie:

- Achtung, ich bin nicht mehr Herr der Situation. Oder:

- Achtung, ich bin nicht mehr souverän!

Die Chancen im Scheitern sehen

Führungskräfte, die, wenn sie solche Warnsignale registrieren, innehalten und alleine oder mit einem Unterstützer ihre Ängste und ihr Verhalten reflektieren, haben eine große Chance, das sich abzeichnende Scheitern abzuwenden; diejenigen jedoch, die dicht machen und in der Sackgasse stecken bleiben, knallen gegen die Wand.

Deshalb der Appell: Achten Sie auf Ihre inneren Warnsignale. Versuchen Sie, früh zu erkennen, wann die Gefahr besteht, dass Sie in einer Sackgasse landen. Und suchen Sie sich dann jemanden, mit dem Sie die Situation reflektieren können. Denn nur, wenn wir es wagen, uns die Möglichkeit eines Scheiterns einzugestehen, können wir uns von den Automatismen lösen, in die wir oft verfallen, wenn ein Scheitern droht. Und nur wenn wir uns unser (partielles) Scheitern eingestehen, können wir auch die Chancen sehen, die hieraus entstehen.