Umgang mit einem Tabu

Scheitern erlaubt!

05.08.2016
Von 
Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner. Der diplomierte Wirtschaftsingenieur ist u.a. Autor des "Change Management Handbuch" und zahlreicher Projektmanagement-Bücher. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal.
Wer in unserer Gesellschaft scheitert, wird schnell als „Loser“ abgestempelt. Ähnlich verhält es sich in vielen Unternehmen: Wer dort zum Beispiel ein Projekt gegen die Wand fährt, muss mit einem Karriere-Knick oder gar -Aus rechnen. Deshalb fällt es vielen Menschen schwer, sich und anderen einzugestehen: Ich bin oder war auf dem falschen Weg. Dadurch berauben wir uns vieler Lernchancen.

Was ist ein Fuck-up? Das Gegenteil eines Start-ups - oder zumindest eine mögliche Konsequenz hiervon. Jahr für Jahr werden allein in Deutschland circa 300.000 Unternehmungen gegründet; also mehr als 800 pro Tag. Doch nur jedes Zehnte hat Erfolg. Das heißt: Bei circa 270.000 Jungunternehmern und Selbstständigen ist das Scheitern programmiert.

Bei circa 270.000 Jungunternehmern und Selbstständigen ist das Scheitern programmiert.
Bei circa 270.000 Jungunternehmern und Selbstständigen ist das Scheitern programmiert.
Foto: pichetw - shutterstock.com

Und wenn sie scheitern? Sind sie dann stolz auf diese Erfahrung und die Lehren, die sie hieraus zogen? Erzählen sie anderen davon, lecken ihre Wunden und starten gereift und gestärkt neu durch? Eher selten! Wer in Deutschland scheitert, schweigt. Denn scheitern ist tabu: Es riecht nach Schwäche, schmeckt nach Fehlern. Im besten Fall erzeugt es Mitleid beim Gegenüber. Im schlimmsten Fall ist der Misserfolg ein scharlachrotes Brandmal. Das Umfeld reagiert mit Abneigung und Ausgrenzung, versteckter Schadenfreude oder Häme. Ein "Loser" zu sein, das ist nicht lustig. Es ist peinlich: ein Grund zum Schämen und zum Schweigen.

Darüber zu sprechen befreit

Doch seit zwei, drei Jahren gibt es einen Trend, der mit diesem Tabu bricht. Die Mexikanerin Leticia Gasca hatte die Geschäftsidee, Indio-Kunsthandwerk übers Internet zu verkaufen. Die Umsetzung ging schief. Zunächst hatte die junge Unternehmerin Hemmungen, über ihr Scheitern zu sprechen. Doch dann erzählte sie Freunden davon und merkte, wie wichtig es für sie war, diese Erfahrung zu teilen.

So entstand die Idee von FuckUp-Nights - Treffen, die Raum geben, Geschichten vom eigenen Scheitern zu erzählen. Und viele Menschen kamen. Denn die Frauen und Männer, die es sich erlaubten, offen über ihr Scheitern zu reden, erlebten dies wie eine Katharsis. Sie wurden wieder frei von Scham, Angst und Selbstverurteilung. Frei für den nächsten Versuch, den nächsten Start.

Inzwischen hat dieser Trend viele Länder erfasst. Und in zahlreichen Großstädten finden regelmäßig solche "Loser-Treffen" statt: Storytelling, um das Erlebte zu verarbeiten; Misserfolge salonfähig machen. Das ist ein sinnvoller Weg, um nicht in einer Art Schockstarre zu verharren, sondern wieder Mut zu fassen, aufzustehen und durchzustarten.

Fuck-up-Nights: auch sinnvoll in Unternehmen?

Solche Foren und Freiräume sind nötig - auch in Unternehmen. Denn nicht nur viele Vorstände, (Projekt-)Manager und Führungskräfte in ihnen, sondern auch Mitarbeiter, die operative Verantwortung tragen, scheuen sich zunehmend, Risiken einzugehen - aus Angst zu scheitern, am (gesellschaftlichen) Pranger zu stehen, das Stigma "Loser" auf der Stirn zu tragen.

Doch wer soll in unserer Gesellschaft, in unseren Unternehmen noch herausfordernde Aufgaben übernehmen und zukunftsweisende Entscheidungen, die stets risikobehaftet sind, treffen, wenn wir eine Kultur tolerieren, die ein Scheitern verurteilt? Was passiert dann mit dem Unternehmergeist, dem Pionierdenken, der Entdeckerfreude, dem Veränderungswillen, der unsere Gesellschaft und die Unternehmen vorantreibt?

Thomas Edison, der Erfinder nicht nur der Glühbirne, erhob das Fehler-Machen und Scheitern zum Prinzip. Als ein Mitarbeiter nach dem tausendsten Versuch, eine marktreife Glühbirne zu entwickeln, sagte "Wir sind gescheitert", soll Edison erwidert haben: "Ich bin nicht gescheitert. Ich kenne jetzt 1000 Wege, wie man keine Glühbirne baut." Dieses Denken fehlt uns zunehmend. Wir haben vergessen, wie wertvoll die Erfahrungen sein können, die Menschen im Kontext mit Misserfolg sammeln.

Sie heben den Reifegrad und verbessern die Performance bei den nachfolgenden Aufgaben und Versuchen - wenn die Erfahrungen reflektiert und verarbeitet werden. Doch leider fördert die Kultur in unserer Gesellschaft und in vielen Unternehmen das Gegenteil. Ein Scheitern ist nicht erlaubt. Und Menschen, die gescheitert sind, bekommen selten eine zweite Chance. Doch so kann kein Lernen erfolgen. Vielleicht sollte es auch in den Unternehmen FuckUp-Nights oder -Meetings geben, in denen Mitarbeiter freimütig darüber berichten, wie sie zum Beispiel

- ein Projekt krachend gegen die Wand fuhren, oder

- eine Auftragschance so richtig vergeigten, oder

- einer absoluten Fehleinschätzung unterlagen, oder

- zu lange an einer falschen Strategie festhielten.