Kate Flathers hat einen wirklich schlechten Tag. Zwischen Meetings, Calls und aus dem Ruder laufenden Projekten ist ein Gespräch mit einem Bewerber das Allerletzte, auf das sie Lust hat. Entsprechend ist der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schießt, als sie den Lebenslauf und das Anschreiben überfliegt: "Gut, dass mir das erspart bleibt."
In ihrer Rolle als Director Product Development bei DrugDev - einem Anbieter von Cloud-Lösungen für klinische Studien - wird Flathers erst dann zum Bewerbungsprozess hinzugezogen, wenn die Kandidaten bereits die ersten Hürden überwunden haben. Und das Profil des Kandidaten, das sie gerade vor sich hat, will so überhaupt nicht zu dem eines Softwareentwicklers passen: Eine Frau um die 40 - und dann auch noch eine Quereinsteigerin.
Kate Flathers ist gerade dabei, die Bewerberin abzulehnen, als ihr klar wird, was sie da eigentlich gerade tut: "Lassen Sie das mal für eine Sekunde sacken: Ich bin eine 40-jährige Frau und arbeite im Software-Business. Als Chef-Entwicklerin. Ich schaue mir die Bewerbung einer anderen 40-Jährigen an und denke sofort: ‚Die hat es nicht drauf‘. Nachdem ich mich für diesen Gedankengang einige Minuten lang innerlich selbst angeschrien hatte, habe ich noch einmal einen Blick auf die Bewerbung geworfen."
Und auch wenn Flathers diese Geschichte als "unglaublich peinlich" empfindet - sie ist es wert, erzählt zu werden. Warum? "Weil genau diese Denke in der IT-Branche so verbreitet ist. Die Vorurteile existieren in unserem Unterbewusstsein und beruhen auf unseren Erfahrungen."
Man kann nicht nacheifern, was man nie zu sehen bekommt. Und was Frauen und junge Mädchen zu selten zu sehen bekommen, sind starke, kompetente, feminine Vorbilder in der Softwareentwicklung und anderen Bereichen der IT-Industrie.
Wo sind die IT-Frauen hin?
Das ist umso erstaunlicher, wenn man einen Blick auf die Anfänge der Tech-Branche wirft: Denn das Programmieren von Computern gilt früher als "Frauenarbeit" und viele der ersten Programmierer sind Frauen. In den Jahren 1983 und 1984 repräsentieren Frauen in den USA zeitweise satte 37 Prozent aller Absolventen eines Studiums der Computerwissenschaften. Mit der steigenden Popularität des Personal Computers schwinden die Zahlen schließlich - wohl auch deshalb, weil der PC in erster Linie als "Jungs-Spielzeug" vermarktet wird. Und diese Marketing-Botschaft bleibt in den Köpfen hängen - und wirkt bis heute nach.
Die CompTIA-Studie, die inzwischen zur Basis für ein E-Book und eine Awareness-Kampagne namens "Make Tech Her Story" wurde, wirft einen Blick auf die Technologie-Gewohnheiten von jungen Menschen und deren Wahrnehmung einer Karriere in der IT-Industrie. Die Ergebnisse zeigen, dass das Interesse von Mädchen und jungen Frauen an einem Job in der IT-Branche um 30 Prozent sinkt, sobald diese eine weiterführende Schule besuchen.
Laut Carolyn April, Analystin bei CompTIA, hat die Studie einige offensichtliche Grundprobleme zu Tage gefördert: "Die Eltern von Jungs gehen beispielsweise wesentlich forscher zu Werke als die Eltern von Mädchen, wenn es darum geht, ihr Kind an Technologien heranzuführen. Das hat einen Domino-Effekt zur Folge: Wenn Mädchen während ihrer Entwicklung keinerlei Vorbilder in diesem Bereich sehen und auch keinerlei Berührungspunkte mit Technologie im Bereich der Bildung bestehen - entwickeln sie daran auch kein Interesse."
Der Studie zufolge streben 69 Prozent aller weiblichen Befragten keine IT-Karriere an, weil sie gar nicht wissen, welche Möglichkeiten überhaupt in diesem Bereich bestehen. Genau hier manifestierten sich schließlich die Stereotypen der 1980er-Marketing-Bemühungen, wie April sagt: Viele Frauen und Mädchen glaubten scheinbar, ein Job in der IT-Branche würde bedeuten, 40 Stunden in der Woche in Isolation vor einem Bildschirm zu verbringen. Dazu kommt, dass auch unter den technologisch interessierten Frauen nur die Hälfte glaubt, ihre Fähigkeiten seien ausreichend, um in der Branche zu arbeiten.
Für Carolyn April ist das Fazit klar: "Wir brauchen wirklich mehr Frauen in der Industrie, die diese Arbeit gut machen, für sich selbst einstehen und als leuchtende Vorbilder für die nachwachsenden Generationen sichtbar sind."