Hannover Messe 2023

Deutsche Industrie muss digitalen Rückstand aufholen

24.04.2023
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Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.

Die Qual der Wahl beim Ökosystem

Angesichts der verschiedenen Initiativen müssen die beteiligten Akteure aufpassen, die deutschen Industrieunternehmen nicht zu verwirren. Ende März war Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz mit einem anderen Vorhaben vorgeprescht. Im Rahmen des bereits 2021 gestarteten Projekts mit dem etwas sperrigen Kürzel IPCEI-CIS will der Minister von den Grünen eine Industrial Cloud bauen. SAP soll für die standardisierte europäische Industrie-Cloud eine passende offene Referenzarchitektur (ORA) entwickeln.

Habeck zufolge geht es dabei um mehr Resilienz und eine stärkere digitale Souveränität in der EU. Außerdem hätten andere Anbieter, insbesondere kleinere und mittelgroße Unternehmen, die Möglichkeit, sich mit einer niedrigen Eintrittsbarriere in ein dezentrales Ökosystem einzuklinken. Unklar bleibt allerdings, inwieweit die verschiedenen Initiativen und Projekte zusammenhängen, Schnittmengen bilden oder isoliert voneinander vorangetrieben werden. Das macht es für die Industrie allerdings schwierig zu bewerten, auf welches Ökosystem-Pferd sie setzen sollen und könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass viele Betriebe von vornherein gar nicht mitmachen.

"Unternehmen stehen vor einem Dschungel von digitalen Lösungen für den herstellerübergreifenden Informationsaustausch in der Produktion", bestätigte Andreas Faath, Leiter der Abteilung Machine Information Interoperability beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). Die Betriebe bräuchten Unterstützung, um den richtigen Pfad der digitalen Transformation zu finden. "Noch besser wäre eine umfassende Landkarte mit Beschreibungen der verschiedenen Ansätze und den daraus resultierenden Mehrwerten, sodass Unternehmen eigenständig agieren können", so Faath.

Regularien und Unklarheiten bremsen Fortschritt aus

Die deutschen Industrieunternehmen haben derzeit noch ganz andere Sorgen als sich zu überlegen, welches Datenökosystem ihnen eventuell in einer nahen oder fernen Zukunft weiterhelfen kann. Zumal gerade höhere Anforderungen an den Datenschutz für die Hälfte der Betriebe laut eco-Umfrage eine große Herausforderung darstellt. Kopfzerbrechen bereiten den Verantwortlichen ferner bürokratische Hürden (55,2 Prozent), fehlendes Know-how (53,2 Prozent) sowie der Fachkräftemangel (48,2 Prozent).

Aus Sicht von eco-Mann Süme muss sich einiges ändern, um die Digitalisierung in der deutschen Industrie und eine bessere Datennutzung in Schwung zu bringen. "Mangelnde Datenverfügbarkeit sowie Rechtsunsicherheiten bei der Nutzung von Daten, fehlende einheitliche Standards, sowie insbesondere regulatorische und finanzielle Anreize für das Teilen von Daten mit anderen Teilnehmern von Wertschöpfungsprozessen halten viele innovative Unternehmen aktuell davon ab, Datensilos aufzubrechen und in diesen Bereich zu investieren", sagte der eco-Chef. Die Bundesregierung müsse endlich klare und verhältnismäßige Regeln für den Austausch von Daten sowie Anreize für Standardisierung und den Aufbau von Datentreuhändern schaffen und auch die Verfügbarkeit von Daten der öffentlichen Hand erhöhen.

Raus aus dem Krisenmodus

Auch in Industriekreisen sieht man die Politik in der Pflicht. Es sei kein Selbstläufer, dass die hiesige Industrie stark bleibe, hieß es beim Bundesverband Deutsche Industrie (BDI). Deshalb sollte die Ampel-Koalition schleunigst vom Krisen- in den Gestaltungsmodus wechseln. "Die deutsche Politik ist in der Verantwortung, die Rahmenbedingungen für die Industrie am Standort Deutschland zu verbessern", sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm und erklärte 2023 zum Jahr der Entscheidungen. Es gehe um nichts weniger als die Resilienz und Zukunft des Industrie-, Export- und Innovationslands Deutschland.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm fordert von der Bundesregierung bessere Rahmenbedingungen für die Industrie - sonst sehe es schlecht aus mit weiteren Investitionen.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm fordert von der Bundesregierung bessere Rahmenbedingungen für die Industrie - sonst sehe es schlecht aus mit weiteren Investitionen.
Foto: BDI

"Innovation war und ist der stärkste Trumpf der deutschen Industrie im globalen Wettbewerb", unterstrich Russwurm. Die Politik müsse ihren Beitrag leisten, dass dieser Motor weiterlaufe. Der BDI-Chef nennt die Dekarbonisierung, die man dringend benötige, um die Klimaschutzziele zu erreichen, und den digitalen Wandel, bei dem man aufholen müsse. Es komme auf die langfristigen Perspektiven und Rahmenbedingungen für die Unternehmen bei der Transformation an.

Von den von Scholz angekündigten Erleichterungen - klarere Ziele, höheres Tempo und mehr Fachkräfte - sieht man beim BDI bislang wenig. "Die Industrie, die massiv investieren will, benötigt für mehr Investitionen Bürokratieabbau, spürbare Steuersenkungen sowie verlässliche und bezahlbare Energieversorgung", forderte Russwurm. Tue sich hier nichts, drohe die Transformation in der Industrie zu missglücken. Vom neuen Deutschland-Tempo, das Kanzler Scholz versprochen hat, sei derzeit noch wenig zu spüren.

Verbände fordern weniger Bürokratie

"Statt immer neue bürokratische Ungetüme großzuziehen, sollte sich die Bundesregierung auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren und für wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen sorgen", sekundierte ZVEI-Präsident Gunther Kegel und klagte, die Politik würde die unternehmerische Freiheit durch sich hinschleppende Genehmigungsverfahren und überbordende Dokumentations- und Meldepflichten ausbremsen. "Die Überbürokratisierung und der in Teilen entfesselte Regulierungseifer lähmen und gehen zulasten von Wettbewerb und Innovation", so Kegel.

Karl Haeusgen, Präsident des VDMA, sieht Deutschland mitten in einer erneuten Standortdebatte - Ausgang derzeit ungewiss.
Karl Haeusgen, Präsident des VDMA, sieht Deutschland mitten in einer erneuten Standortdebatte - Ausgang derzeit ungewiss.
Foto: VDMA

Klare Aussagen von der Politik, wie die Industriestandorte Deutschland und Europa in den kommenden Jahren gesichert und gestärkt werden sollten, forderte auch der VDMA. "Wir stehen mitten in einer neuen, intensiven Standortdebatte", sagte VDMA-Präsident Karl Haeusgen. Deutschland und Europa müssten sich im globalen Wettbewerb mehr anstrengen, um mit anderen Weltregionen mithalten zu können. Haeusgen verlangte unter anderem eine deutliche und Beschleunigung von Genehmigungsverfahren sowie einfachere administrative Prozesse und weniger Bürokratie. Zudem müsse sich der Ausbau der digitalen Infrastruktur enorm beschleunigen - gerade im ländlichen Raum, in dem viele mittelständischen Maschinenbaufirmen ihren Sitz haben.

Die Industrie soll investieren

Große Hoffnungen setzt man beim VDMA in die Digitalisierung. Datenökosysteme wie Manufacturing-X würden die nächste Stufe von Industrie 4.0 einläuten, hieß es in einem abschließenden Statement des Verbands zur Hannover Messe. Datenplattformen würden insbesondere dem industriellen Mittelstand die Tür zu neuen, digitalen Geschäftsmodellen eröffnen.

So recht will der digitale Funke noch nicht überspringen. Die deutsche Industrie tut sich nach wie vor schwer mit der digitalen Transformation, das wurde einmal mehr auf der diesjährigen Hannover Messe deutlich.
So recht will der digitale Funke noch nicht überspringen. Die deutsche Industrie tut sich nach wie vor schwer mit der digitalen Transformation, das wurde einmal mehr auf der diesjährigen Hannover Messe deutlich.
Foto: Hannover Messe

"Die Vernetzung von Softwareindustrie und Maschinenbau gewinnt immer weiter an Bedeutung", erklärte Claus Oetter, Geschäftsführer VDMA Software und Digitalisierung, verwies aber auch darauf, dass an dieser Stelle noch viel zu tun sei. "Um die digitale Transformation in der Industrie in der ganzen Breite umzusetzen, muss noch mehr in digitalen Ökosystemen gedacht werden. Datenerfassung und -verarbeitung, Geschäftsmodelle und Datenschutz sind die zentralen Herausforderungen der gesamten Industrie."

Bundeskanzler Scholz gab sich zuversichtlich, dass diese Herausforderungen gelöst werden könnten, und warb um Vertrauen. Aus den klar vorgegebenen Zielen könne ein "großer Aufschwung für unser Land" entstehen. Die Transformation werde das große Wachstumsprojekt für unser Land. Scholz rief die Unternehmen dazu auf, in neue Anlagen und Produktionen zu investieren: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Oder etwas positiver gewendet: Wer früh dran ist, der ist Teil des Aufschwungs."