Fachkräftemangel

Bewerben mit Handicap

06.10.2013
Von 
Winfried Gertz ist Journalist in München. Er arbeitet in einem Netzwerk von zahlreichen Anbietern kreativer Dienstleistungen. Das Spektrum reicht von redaktioneller Hörfunk- und Fernsehproduktion über professionelle Fotografie bis zu Werbetexten für Industrieunternehmen und Non-Profit-Organisationen.

Nichts zu sagen kann fatal sein

Ähnlich argumentiert HR-Bloggerin Hartenfeller: "Wenn sie sich nicht als Beraterin bewirbt, die viel im Flugzeug unterwegs sein muss, ist die Erkrankung nicht relevant." Wie der Arbeitsalltag zu gestalten ist, könne man besprechen, sobald geklärt sei, ob man zueinander finde. Personalerin Dinc hingegen empfiehlt der Softwarespezialistin dringend, die Karten auf den Tisch zu legen - schon im eigenen Interesse.

Würde sie ihr Handicap verschweigen, gefährde sie ihre Gesundheit weiter und drohe sogar langfristig auszufallen. "Spätestens dann werden viele Fragen aufkommen, und die Wahrheit muss raus." Würde sie erst nach Ablauf der Probezeit die Wahrheit sagen, könnte der Arbeitgeber verärgert reagieren und versuchen, sie loszuwerden - "vielleicht sogar sie mit minderwertigen Tätigkeiten drängen zu gehen".

Für Arbeitsrechtler Kursawe ist der Fall klar: Gehören Flugreisen zum Job, ist dies ein wichtiger Bestandteil des Tätigkeitsprofils. Dann müsste die Arbeitnehmerin auch mitteilen, dass sie nicht dauerhaft sitzen kann, zumal es sich bei einer Entwicklerin typischerweise um eine Tätigkeit in sitzender Position handelt. "Verschweigt sie das, kann der Arbeitsvertrag angefochten werden und der Arbeitgeber eine personenbedingte Kündigung aussprechen."

Beim dritten Beispiel, der unter Multiple Sklerose leidenden Marketing-Frau, gehen die Einschätzungen ebenfalls auseinander. Um sich sozial abzusichern, sollte jede(r) Betroffene unbedingt einen Behindertenausweis beantragen, empfiehlt Dinc. "Doch die Hoffnung, deshalb bevorzugt eingestellt zu werden, ist utopisch." Gehe aus dem Ausweis ein Behinderungsgrad von 50 Prozent oder mehr hervor, würden die meisten Arbeitgeber von einer Einstellung absehen.

Ziel sei es stets, den besten Kandidaten für eine Vakanz zu gewinnen, ergänzt Bloggerin Hartenfeller. Auf jeden Fall sei es besser, auf die MS-Erkrankung hinzuweisen, um möglichen Fehlinterpretationen vorzubeugen: "Warum stolpert sie ständig?"

Schwerbehinderung ist eher von Nachteil

Für rechtliche Klarheit sorgt Kursawe: "Die bevorzugte Einstellung derlei beeinträchtiger Personen ist eher selten. Auch wenn es niemand offen sagt, ist eine Schwerbehinderung eher von Nachteil für den Bewerber." Kursawe rät Unternehmen, sich schon ihres Ansehens wegen zu fragen: "Wie gehen wir mit behinderten oder kranken Mitarbeitern um?" Nicht minder wichtig sei, wie dringend Fachkräfte benötigt würden und zu welchen Kompromissen man bereit sei.

Wo sind nun schließlich die drei Bewerber gelandet? Der unter Zittern leidende Kandidat, der sich per Videotraining auf das Gespräch vorbereitet hatte, ist inzwischen als Prozessberater in der IT-Abteilung eines Konzerns tätig. Die an Thrombose leidende Softwareentwicklerin ist erfolgreich als Projektleiterin bei einer Behörde eingestiegen, die, wie im öffentlichen Dienst üblich, Bewerber mit einem Handicap bevorzugt einstellt.

Ihre Krankheit verschwiegen hat hingegen die von MS im Anfangsstadium betroffene Frau. Nach erfolgreicher Bewerbung ist sie zur Senior-Marketing-Leiterin aufgestiegen. Wegen Krankheitsschüben fiel sie kurzfristig zweimal im Jahr aus, was aber nicht sonderlich störte. (hk)

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