Fachkräftemangel

Bewerben mit Handicap

06.10.2013
Von 
Winfried Gertz ist Journalist in München. Er arbeitet in einem Netzwerk von zahlreichen Anbietern kreativer Dienstleistungen. Das Spektrum reicht von redaktioneller Hörfunk- und Fernsehproduktion über professionelle Fotografie bis zu Werbetexten für Industrieunternehmen und Non-Profit-Organisationen.
Von der großen Nachfrage nach IT-Fachkräften könnten auch behinderte Menschen profitieren, heißt es. Die Frage ist nur, wie offen sie im Bewerbungsprozess über ihr Handicap sprechen sollten.

Ein unter Zittern leidender 32-jähriger Mann beabsichtigt, sich auf eine Führungsposition in der IT-Branche zu bewerben. Der Tremor tritt bisweilen in Stresssituationen auf. "Oft werden Betroffene als suchtkrank abqualifiziert", beobachtet die Karriereberaterin Birgit Zimmer-Wagner aus Selters im Taunus. "Soll der Kandidat auf sein Handicap bereits im Bewerbungsschreiben oder erst im Vorstellungsgespräch hinweisen - oder es lieber ganz verschweigen?" ist eine oft gestellte Frage, berichtet Zimmer-Wagner.

Schwer tut sich auch eine 33-jährige Softwareentwicklerin. Wegen einer Thrombose muss sie sich regelmäßig bewegen und auch mal die Beine hochlegen. Fliegen darf sie nicht. Eine andere Kandidatin, Anfang 40 und von Multipler Sklerose (MS) betroffen, möchte sich als Marketing-Leiterin bewerben. Sollte sie den erhöhten Behinderungsgrad beantragen und darauf hoffen, dass sie deshalb bevorzugt eingestellt wird, oder ist es besser, das Leiden zu verschweigen?

Frage ist, ob die Behinderung stört

Foto: Picture-Factory - Fotolia.com

Mit solchen Fragen konfrontierte Personalleiter zeigen meist Verständnis, nennen aber auch ihre Bedingungen. Hilal Dinc, Personalchefin der SC Electronic Service GmbH in Herford, hat selbst eine unter Zittern leidende Mitarbeiterin. "Zunächst hielt ich es für ein Zeichen von Nervosität und Unsicherheit. Als ich von der Diagnose erfuhr, habe ich alle Mitarbeiter informiert und sensibilisiert, um jegliche Vorbehalte aus der Welt zu schaffen." Obwohl die Mitarbeiterin in einem Bereich tätig ist, wo viel von ihrer Feinmotorik abhängt, habe die Erkrankung laut Dinc "nie Auswirkungen auf die Arbeitsqualität" gehabt.

Die Personalerin verhält sich genauso, wie es ihr Stefan Kursawe, Fachanwalt für Arbeitsrecht in München, angeraten hätte. Offenbare sich die Krankheit erst nach der Stellenbesetzung, sollten sich Unternehmen kritisch fragen, "ob die Krankheit oder Behinderung tatsächlich störend ist und die Beschäftigung unmöglich macht". Sei die Person objektiv ungeeignet, sei eine personenbedingte Kündigung zulässig. Anders in der Probezeit: Hier könne auch Mitarbeitern mit Handicap ohne Angabe von Gründen gekündigt werden.

Vor Gericht gelte in aller Regel der Grundsatz: "Der Arbeitnehmer muss auf Umstände und in seiner Person gegebene Eigenschaften hinweisen, wenn für ihn erkennbar ist, dass er deshalb die vorgesehene Arbeit objektiv nicht leisten kann oder die sich daraus ergebende Minderung der Leistungen und Fähigkeiten für den in Betracht kommenden Arbeitsplatz von ausschlaggebender Bedeutung ist."

Hinweis in der Bewerbung

Brisanz hat eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes. Danach kann eine Krankheit eine Behinderung sein, wenn sie den Arbeitnehmer über längere Zeit sozial benachteiligt. Die Krankheit fällt also unter das Antidiskriminierungsgesetz (AGG). "Dennoch bleibt weiterhin Voraussetzung einer Einstellung, dass der Arbeitnehmer die Tätigkeit angemessen ausüben kann", betont Kursawe. "Es handelt sich immer um Einzelfallbeurteilungen."

Andrea Hartenfeller, HR-Bloggerin: "Ich empfehle, in der Bewerbung auf die Behinderung hinzuweisen, damit der Personaler Zeit hat, sich darauf vorzubereiten."
Andrea Hartenfeller, HR-Bloggerin: "Ich empfehle, in der Bewerbung auf die Behinderung hinzuweisen, damit der Personaler Zeit hat, sich darauf vorzubereiten."
Foto: Andrea Hartenfeller

Doch was sollten die eingangs zitierten Bewerber nun tun? "Wenn das Vorstellungsgespräch eine Stresssituation für den unter Zittern leidenden Kandidaten darstellt", empfiehlt Andrea Hartenfeller, Betreiberin des HR-Blogs AHa-Erlebnisse schon in der schriftlichen Bewerbung auf die Erkrankung hinzuweisen. "So können sich die Gesprächspartner auf ihn einstellen und mehr Zeit einplanen. Anderer Meinung ist Tanja Schilling, Personaldirektorin des Call-Center-Betreibers BUW in Osnabrück. Sie empfiehlt, erst im Bewerbungsgespräch auf ein Handicap hinzuweisen. Im Dialog lasse sich klären, was zu tun sei, um das Handicap abzufangen. Unternehmen würden eher jemanden ablehnen, den sie noch nicht persönlich kennengelernt hätten.

Rein rechtlich betrachtet, so Anwalt Kursawe, sei weder eine schriftliche noch eine mündliche Warnung nötig. Selbst wenn die Krankheit den Bewerber in einer etwaigen Führungstätigkeit benachteiligen könnte - Stichwort Autoritätsproblem -, müsse der Bewerber nicht über den Tremor aufklären. "Seine Tätigkeit kann er ausüben, während Kollegen und ihm unterstellte Mitarbeiter lernen müssen, damit umzugehen." Eine andere Lage ergebe sich allerdings, "wenn er nicht mehr ruhig tippen kann und statt 22 Euro 22 Millionen Euro überweist."

Weist der Kandidat jedoch auf sein Handicap hin, ergibt sich Kursawe zufolge für Personaler Handlungsbedarf: "Sie werden nach der Belastbarkeit fragen und eine medizinische Untersuchung als Voraussetzung für die Einstellung erbitten."

Zum zweiten Beispiel, der unter einer Thrombose leidenden Softwareentwicklerin, sagt Personalfrau Schilling: "Wer regelmäßig das Bein hochlegen muss, ist doch keine Belastung. Eine Entwicklerin kann ihrer Aufgabe gewiss auch in dieser Position nachgehen." Wichtig sei, dass man im Team offen mit dieser Situation umgehe und sich gegenseitig unterstütze.