Materna-Chef im Interview

"Alle fragen sich, warum es nicht schneller geht"

02.02.2023
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
Materna macht ein Drittel seiner Umsätze mit der öffentlichen Hand. Wir haben den Vorstandsvorsitzenden Martin Wibbe gefragt, warum Deutschland beim E-Government so weit abgehängt ist.
  • Das Online-Zugangsgesetz ist hochambitioniert, dahinter stecken rund 11.000 Einzelleistungen
  • Martin Wibbe hätte in der neuen Bundesregierung gerne ein Digitalministerium gesehen
  • Es fehlt an Standards und allgemeingültigen Architekturen
Martin Wibbe ist Vorstandsvorsitzender (CEO) der Materna Information & Communications SE in Dortmund. Auf der Lünendonk-Liste 2022 wird Materna als das führende mittelständische IT-Beratungs- und Systemintegrations-Unternehmen in Deutschland gerankt.
Martin Wibbe ist Vorstandsvorsitzender (CEO) der Materna Information & Communications SE in Dortmund. Auf der Lünendonk-Liste 2022 wird Materna als das führende mittelständische IT-Beratungs- und Systemintegrations-Unternehmen in Deutschland gerankt.
Foto: Materna

Materna macht ein Drittel seines Umsatzes mit der öffentlichen Hand. Sie sitzen also gewissermaßen an der Quelle und können sicher erklären, warum die Fortschritte in Sachen E-Government hierzulande immer noch überschaubar sind. Jüngstes Beispiel ist das Online-Zugangsgesetz (OZG): Von 575 Diensten, die Ende 2022 verfügbar sein sollten, wurden kaum welche umgesetzt…

Wibbe: Ich kann Ihren Eindruck bestätigen. Man muss sich nur die verschiedenen Analysen ansehen, den E-Government-Monitor 2022 der Initiative D21 zum Beispiel, da wird das ja faktisch belegt. Die digitale Nutzungslücke liegt in Deutschland bei 57 Prozent, bei den deutschsprachigen Nachbarn Österreich oder Schweiz aber nur bei 42 beziehungswiese 46 Prozent.

Auf der anderen Seite ist das OZG mit den 575 angepeilten Leistungen aber auch wirklich hochkomplex. Dahinter stehen 11.000 Einzelleistungen, das ist eine schwierige Aufgabe, die durch unser föderales System noch einmal massiv in der Umsetzung erschwert wird. Immerhin haben wir einen Koalitionsvertrag, in dem das Thema Digitalisierung einen Schwerpunkt einnimmt. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass die Rahmenbedingungen für die Bundesregierung derzeit alles andere als günstig sind: Aufgrund des Ukraine-Kriegs und der daraus resultierenden Energiekrise hat die Politik mit vielen Themen parallel zu kämpfen.

Die Chance eines Digitalministeriums wurde verpasst

Hätte die neue Regierung ein reines Digitalministerium einrichten müssen?

Wibbe: Ich glaube schon, dass hier eine Chance verpasst wurde. Es wäre gut, wenn eine Digitalministerin oder ein -minister, ausgestattet mit Rechten und Budget, am Regierungstisch sitzen würde. Jetzt wird wieder weiter in einer Matrix gearbeitet, alle digitalen Themen werden auf die verschiedenen Ministerien und Ressorts aufgeteilt. Der Abstimmungs- und Koordinationsaufwand ist hoch - das zieht sich wie in den Jahren zuvor durch.

Das wird von der breiten Bevölkerung und den Unternehmen, die zunehmend digital arbeiten und leben, schmerzlich wahrgenommen. Natürlich fragen sich alle, warum es nicht schneller geht.

Und warum geht es nicht schneller? Warum liegt Deutschland EU-weit bei den öffentlichen Diensten immer noch auf Platz 18, auch deutlich hinter einem vergleichbaren Flächenland wie Frankreich?

Wibbe: Das ist eine komplexe Frage, die so pauschal kaum zu beantworten ist. Wichtig wäre aus meiner Sicht jetzt ein hochpragmatisches Vorgehen. Und das wurde auch erkannt. Nehmen wir mal das OZG: Ich glaube, dass es richtig war, 35 Leistungen zu priorisieren und für den sogenannten Booster auszuwählen.

Die sind aber ebenfalls nicht planmäßig fertig geworden

Wibbe: Aber wenigstens hat man die Priorisierung hinbekommen. Ich glaube, dass in Deutschland zwei Dinge die Lage kompliziert machen: fehlende Einigung auf allgemein gültige Standards und Architekturen sowie Minimalanforderungen. Das hätte uns gerade in der Umsetzungsgeschwindigkeit gutgetan.

In anderen Ländern sind digitale Themen sicher höher priorisiert worden und können in einem zentralen Ansatz leichter umgesetzt werden. Andererseits sind diese Länder oft auch kleiner als Deutschland und damit im Vorteil. Unterm Strich würde ich aber schon sagen, dass uns ein bisschen die Phantasie fehlt und vielleicht auch der Mut etwas zu wagen. Wir sind eine eher zögerliche Gesellschaft, die Dinge lange hinterfragt, bevor sie aktiv wird.

"Über Zielarchitekturen für die Verwaltungs-Cloud wird nachgedacht"

Stillstand ist in Zeiten einer dynamischen Entwicklung im ITK-Markt aber gefährlich. Beispielsweise nimmt die Dominanz US-amerikanischer Cloud-Konzerne rasant zu. Die Deutsche Bahn, ein öffentliches Unternehmen, setzt gerade ihren gesamten Vertrieb einschließlich Fahrkartenautomaten und Systeme für Reisezentren in der Amazon-Cloud neu auf. Müssten wir nicht schnellstens eine klare Linie in Sachen Sovereign Cloud verfolgen?

Wibbe: Über mögliche Zielarchitekturen für die Verwaltungs-Cloud wird derzeit intensiv nachgedacht, die souveräne Cloud wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Es geht hier um operationale und technologische Souveränität, die entsprechenden Logiken müssen abgesichert und gesteuert werden. Da sehen wir uns als Materna übrigens gut aufgestellt.

Die großen Hyperscaler wissen ja, dass es mit einem Standardangebot für die Verwaltung in Deutschland eher schwierig wird. Auch wenn sie sich anpassen, sind es immer noch amerikanische Unternehmen, die sich US-amerikanischem Recht nicht so einfach entziehen können. Deshalb werden wir in Deutschland und Europa klar in Richtung souveräne Cloud-Infrastrukturen gehen, in denen aber auch die Hyperscaler eine wichtige Rolle spielen werden.

Heißt das, wir steuern im Public Sector auf eine Multi-Cloud-Welt zu, in der die Hyperscaler unkritische Massendaten verarbeiten und deutsche oder europäische Sovereign-Cloud-Partner wie Ionos, PlusServer oder Telekom die sensiblen Daten managen?

Wibbe: Ja, es wird nicht-sensitive Massendaten geben, wo der Speicherort keine Rolle spielt, und andere Bereiche, die wir souverän in Deutschland abbilden werden. Als Materna machen wir rund ein Drittel unseres Umsatzes mit der öffentlichen Hand. Wir arbeiten sowohl mit den einen als auch mit den anderen zusammen. Partnerschaften mit Amazon Web Services (AWS) und Microsoft intensivieren wir sogar aktuell. Parallel dazu beschäftigen wir uns mit der Sovereign Cloud und arbeiten mit lokalen Anbietern zusammen, um eben auch hybrid agieren zu können.

Wir haben dazu in unser Angebot "Journey2Cloud" weiter investiert und den Public Sector gesondert betrachtet. Dort beschäftigen wir uns intensiv mit Sovereign Cloud. Wir haben aber auch viele Industriekunden, da wollen wir zusammen mit den großen Cloud-Konzernen Lösungen entwickeln.