Pleiten, Pech und Pannen

12 ERP-Katastrophen

13.05.2024
Von  , , und Thomas Wailgum
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Josh Fruhlinger ist freier Autor in Los Angeles.
Peter Sayer ist Korrespondent des IDG News Service.

Revlon

Foto: Poetra.RH - shutterstock.com

Auch beim Kosmetikriesen Revlon war es eine Fusion, die letzten Endes in das ERP-Desaster führte. 2016 übernahm die in New York ansässige Revlon Corp. die Konkurrentin Elizabeth Arden Inc. Nach der Fusion sollten sämtliche Prozesse über alle Geschäftsbereiche hinweg integriert und harmonisiert werden. Das betraf auch das ERP.

Eigentlich hatten beide Unternehmen in der Vergangenheit positive Erfahrungen mit ERP-Einführungen gemacht: Elizabeth Arden mit Oracle Fusion Applications und Revlon mit Microsoft Dynamics AX. Doch im Dezember 2016 traf das fusionierte Unternehmen die schicksalhafte Entscheidung, sich für einen neuen Anbieter zu entscheiden, für SAP HANA.

Doch das ging gründlich schief. Im März 2018 wurde das SAP-System in Revlons zentraler Produktionsanlage in North Carolina eingeführt. Daraufhin gerieten Fertigung und Logistik erst einmal ins Stolpern. Revlon gingen geschätzt 64 Millionen Dollar an Produktionsausfällen verloren. Dazu kamen über 53 Millionen Dollar, die der Kosmetikhersteller an Kunden zahlen musste, weil Lieferverträge nicht eingehalten werden konnten.

Die Störungen zogen sich hin. Im vierten Quartal 2018 verbuchte Revlon einen Verlust von über 70 Millionen Dollar. Der Finanzbericht für das Gesamtjahr konnte wegen den Fehlern rund um die SAP-Einführung nicht rechtzeitig und regelkonform abgeliefert werden. Infolgedessen sackte der Aktienkurs um 6,4 Prozent ab. Mehrere Anteilseigner zerrten Revlon vor Gericht. Sie warfen dem Kosmetikproduzenten vor, die Aktionäre nicht ausreichend über die Risiken der SAP-Umstellung informiert und damit gegen Börsenregularien verstoßen zu haben.

Das hatte Konsequenzen, hinein bis in die höchsten Managementebenen. Im März 2019 trat Finanzchefin Victoria Dolan zurück und übernahm damit die Verantwortung für den verspäteten Finanzbericht. Chief Operating Officer (COO) Christopher Peterson gab öffentlich Probleme während der SAP-Umstellung zu. Er räumte auch ein, dass es intern Schwachstellen in den internen Kontrollsystemen im Zusammenhang mit der SAP-Einführung gegeben habe.

Learning: Wer ein komplett neues ERP-System einführt, muss mit mehr Aufwand rechnen.

Lidl

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Lidl erlebte sein ERP-Armageddon mit eLWIS, dem "elektronischen Lidl Warenwirtschaftsinformationssystem". 2011 hatte der deutsche Discounter damit begonnen, einen Nachfolger für seine hauseigene Lösung "Wawi" zu entwickeln. Auf Basis von "SAP for Retail powered by SAP HANA" sollte eine neue Lösung entstehen.

Die Lidl-Verantwortlichen sprachen vom größten Transformationsprozess der Unternehmensgeschichte. Entsprechend hoch waren die Erwartungen. Der Aufwand für die Stammdatenpflege sollte sich deutlich reduzieren, Kennzahlenanalysen und Prognosen in Echtzeit möglich werden. Man wolle nicht mehr einzelne Funktionen, sondern integrierte Prozessketten vom Lieferanten bis zum Kunden abbilden, verlautete noch 2016 aus der Konzernzentrale in Neckarsulm.

Doch daraus wurde nichts. Zwar lief das System in kleineren Filialen in Österreich, Nordirland und den USA. Doch obwohl über 100 IT-Spezialisten an dem System herumbastelten, brachten sie es nicht für größere Märkte zum Laufen. Im Juli 2018 stoppte der Handelsriese das ERP-Projekt. Die ursprünglich definierten strategischen Ziele seien nicht mit vertretbaren Aufwand erreichbar, hieß es. Branchenbeobachtern zufolge soll das Projekt Lidl etwa 500 Millionen Euro gekostet haben.

Als Alternative wurde das alte System wiederbelebt. In der Kosten-Nutzen-Abwägung spreche alles für die Weiterentwicklung der Wawi, verlautete aus dem Vorstand. Der Beschluss sei jedoch keine Entscheidung gegen SAP, sondern für ein eigenes System, betonte das Management. In anderen Bereichen wolle man mit dem Software-Konzern weiter zusammenarbeiten.

Learning: Rechtzeitig den Stecker ziehen - wer zu lange an einem taumelnden Projekt festhält, verliert am Ende mehr Geld.

National Grid

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National Grid USA (NGUSA) versorgt Kunden in New York, Rhode Island und Massachusetts mit Gas und Strom. Ende 2012 stand das Unternehmen vor einer schwierigen Entscheidung. Die Einführung einer neuen SAP-Implementierung hatte bereits drei Jahre gedauert und war längst überfällig. Der Go-Live-Termin war für den 5. November 2012 angesetzt.

Würde NGUSA diesen Termin verpassen, drohten weitere Monate der Verzögerung, inklusive zusätzlicher Kosten in Höhe von etwa 50 Millionen Dollar. Um diesen Mehraufwand bezahlen zu können, hätte der Versorger die Tarife erhöhen müssen. Doch dafür brauchte es die Einwilligung der Regulierungsbehörden. Die Alternative, das neue SAP-System zu früh einzuschalten, barg jedoch auch Risiken. Potenzielle Pannen könnten den gesamten Betrieb gefährden. Dazu kam, dass kurz zuvor der Supersturm Sandy das Versorgungsgebiet von National Grid verwüstet und Millionen Menschen ohne Strom zurückgelassen hatte.

Inmitten des Chaos trafen die NGUSA-Verantwortlichen die Entscheidung, den SAP-Schalter umzulegen. Die Katastrophe nahm ihren Lauf. Während die Service-Techniker draußen mit Hochdruck daran arbeiteten, das durch den Sturm stark beschädigte Stromnetz wieder zu reparieren, offenbarten sich dem IT-Team immer mehr Pannen und Fehler im ERP-System.

Das betraf verschiedene Bereiche: So funktionierte beispielsweise die Gehaltsabrechnung nicht mehr. Einige Mitarbeiter erhielten zu hohe Gehaltsschecks, andere zu wenige, wieder andere gar kein Gehalt. Lieferantenrechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden, in der Buchhaltung herrschte pures Chaos. Das Finanz-Reporting war so schlecht, dass NGUSA aufgrund seiner Unfähigkeit, zufriedenstellende Finanzberichte vorzulegen, den Zugang zu kurzfristigen Krediten verlor.

NGUSA musste ein Notfallprogramm starten, um das SAP-System irgendwie zu stabilisieren. Dieses Programm dauerte mehr als zwei Jahre und kostete fast 600 Millionen Dollar - deutlich mehr als das eigentliche ERP-Projekt. Der SAP-Albtraum verfolgte den US-Versorger noch etliche Jahre. Ende November 2017 verklagte NGUSA seinen Systemintegrator Wipro. Der Vorwurf lautete unter anderem, Wipro habe seine SAP-Implementierungsfähigkeiten und sein Know-how über die Geschäftsabläufe und üblichen Praktiken der US-Versorgungsunternehmen falsch dargestellt. 2018 wurde der Streit außergerichtlich beigelegt. Wipro zahlte NGUSA 75 Millionen Dollar. Der ERP-Schaden war jedoch beträchtlich größer.

Learning: Den Start eines neuen ERP-Systems nicht um jeden Preis erzwingen wollen. Auch wenn es Zeit und Geld kostet, lohnt es sich in manchen Situationen, lieber eine Extra-Runde im Projekt zu drehen.

Worth & Co.

Foto: Worth & Co. / Screenshot

Worth & Co., ein im US-amerikanischen Pennsylvania ansässiges Fertigungsunternehmen, benötigte ein neues ERP-System und beauftragte 2014 den Dienstleister EDREi Solutions mit der Implementierung von Oracles E-Business Suite. Der erste Go-Live-Termin war für November 2015 angesetzt. Doch daraus wurde nichts. Die Frist wurde auf Februar 2016 verschoben. Aber das Jahr 2016 kam und ging - die E-Business-Suite lief aber immer noch nicht. Im Jahr 2017 wechselte Worth & Co. EDREi den Integrator. Aber auch Monument Data Solutions brachte das ERP-System nicht zum Laufen. Ein weiteres Jahr wurde erfolglos mit dem Versuch verbracht, die Oracle-Suite für die Zwecke von Worth & Co. anzupassen.

Nachdem die Amerikaner das ERP-Projekt schließlich aufgegeben haben, verklagten sie im Februar 2019 Oracle. Oracle habe es versäumt, ein geeignetes und funktionsfähiges Softwaresystem zu liefern, heißt es in den vor Gericht eingereichten Unterlagen. Worth habe mehr als 4,5 Millionen Dollar für den Kauf und die Implementierung des letztlich nicht funktionierenden Oracle-ERP-Produkts zahlen müssen. Die Klage läuft noch.

Learning: Flexibel sein - wer merkt, dass das ausgewählte ERP partout nicht auf die eigenen Anforderung passen will, sollte zügig umplanen und auch einmal sich selbst und seine ERP-Wünsche kritisch hinterfragen.

Target

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Als der US-amerikanische Handelsriese Target 2011 Pläne offenlegte, seine Geschäfte nach Kanada auszuweiten, waren die Erwartungen groß. Es wurden über 200 Ladengeschäfte vom Kanadischen Retailer Zellers Inc. übernommen. 2013 sollten über 100 Target-Stores an den Start gehen.

Dreh- und Angelpunkt der Expansion war das ERP-System. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Verbraucher wie in den USA gut bedient würden. Gute Qualität zu niedrigen Preisen - damit wollte Target auch im nördlichen Nachbarland punkten. Doch die Verantwortlichen unterschätzten die Komplexität eines solchen Projekts - gerade hinsichtlich des ERP-Systems.

Die Target-Verantwortlichen beschlossen, das in den USA eingesetzte SAP-System einfach auf Kanada auszuweiten. Doch vor allem die Integration und der Import von Daten misslang gründlich. Als Target 2013 in Kanada startete, ging man davon aus, es müssten keine Daten konvertiert werden, sondern nur neue Informationen in das SAP-System eingegeben werden.

Doch das funktionierte nicht. Die Mitarbeiter waren völlig überfordert. Außerdem brachte der kanadische Markt durchaus einige Besonderheiten mit sich: andere Währung, teilweise andere Sprache (französisch), andere Präferenzen der Konsumenten, andere regulatorische Vorgaben und andere Herausforderungen in Sachen Logistik angesichts der Geographie. All das wurde zu wenig berücksichtigt. Die Lieferketten brachen zusammen. Ursache waren in erster Linie fehlerhafte Daten. Artikel waren mit falschen Abmessungen, Preisen, Herstellern usw. gekennzeichnet.

Es stellte sich heraus, dass Tausende von Einträgen unter extremen Zeitdruck von Einsteigern ohne Erfahrung manuell in das System eingegeben wurden. Untersuchung ergaben im Nachhinein, dass nur etwa 30 Prozent der Daten im System tatsächlich korrekt waren. 2014 berichtete Target für sein Kanada-Abenteuer einen Verlust von über 900 Millionen Dollar. Ein Jahr darauf meldete Target Canada Konkurs an und schloss seine Läden. Insgesamt dürfte Target der Ausflug in den Norden Milliarden Dollar gekostet haben.

Learning: Rahmenbedingungen genau checken - ein ERP, das an einer Stelle gut funktioniert, muss das nicht automatisch überall tun.

PG&E

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Auch bei The Pacific Gas and Electric Company (PG&E) war es eine Datenpanne, die dem Energieversorger zum Verhängnis wurde. Im Zuge einer fehlerhaften Oracle-ERP-Implementierung waren mit einem Mal sensible Produktionsdaten frei einsehbar.

Im Mai 2016 entdeckte Chris Vickery, Risikoanalyst bei UpGuard, eine öffentlich zugängliche Datenbank, bei der es sich offenbar um das Asset-Management-System von Pacific Gas and Electric handelte. Sie enthielt Details zu über 47.000 PG&E-Computern, virtuellen Maschinen, Servern und anderen Geräten - und war vollständig offen über das Netz zugänglich - ohne Benutzername oder Passwort.

Offenbar hatte ein Drittanbieter im Zuge der Entwicklung des Asset-Management-Systems Live-PG&E-Daten erhalten, um eine "Demo"-Datenbank zu füllen. Dabei ging es wohl um einen Test, wie das System in der realen Produktionspraxis funktionieren und reagieren würde. Über zwei Monate lagen die Informationen frei verfügbar im Netz. Das rief auch die Behörden auf den Plan. Die North American Electric Reliability Corporation (NERC) verdonnerte PG&E zu einer Strafzahlung in Höhe von 2,7 Millionen Dollar.

Learning: Auf Daten, andere Daten und noch Mal Daten achten - wenn die Daten schlecht sind, kann das ERP-System noch so gut sein: Das Projekt wird trotzdem scheitern.