Internetunternehmen versus Corporate IT

Zukunftsfähig mit mehr IT Know-how

05.08.2015
Von 


Thomas Wittbecker ist einer der Gründer der ADACOR Hosting. In seiner Funktion als CEO ist er im Unternehmen vor allem für die Neu- und Großkundengewinnung, Finanzen und Kommunikation verantwortlich. In seinen Blogbeiträgen setzt er sich pointiert mit Themen und Phänomenen auseinander, die ihm im Arbeitsalltag begegnen. Als Visionär vertritt er die Überzeugung, dass es für ein Unternehmen wichtig ist, ein verlässlicher und langfristiger Partner aller Stakeholder zu sein.

Standardsoftware versus Individualentwicklung

Die große Mehrheit der Großunternehmen setzt in fast allen Bereichen auf Standardsoftware. Häufig werden dann im Unternehmen die Prozesse an diese Software angepasst. Der Klassiker ist da sicher SAP. Es ist schlicht und ergreifend viel zu aufwändig oder auch gar nicht möglich, eine Standardsoftware ohne Weiteres exakt auf individuelle Prozesse innerhalb eines Unternehmens anzupassen. Die logische Folge: Die Unternehmensprozesse werden an die Software angepasst. In manchen Bereichen ist das auch durchaus vernünftig. Eine Individualentwicklung im Bereich Rechnungswesen ist mit Sicherheit nicht sinnvoll, denn hier gibt der Gesetzgeber im Großen und Ganzen den Rahmen vor. Über individuelle Prozesse sind in diesem Bereich kaum Wettbewerbsvorteile zu erzielen.

Aber wie verhält es sich zum Beispiel bei Handelsunternehmen? Die meisten Handelsunternehmen setzen meiner Erfahrung nach auf kommerzielle E-Commerce-Plattformen, die dann entsprechend customized werden. Aber kein Unternehmen hat eine solche Kontrolle über die Weiterentwicklung des Kerngeschäfts wie Amazon. Wie kommt das? Die Erklärung: Wenn das Know-how für die Entwicklung der Verkaufsplattform im eigenen Haus oder bei eng an das Unternehmen gebundenen Dienstleister angesiedelt ist, dann kann man auf jede Erfahrung, die man im Tagesgeschäft macht, mit einer Optimierung der Abläufe und der Plattform reagieren. So ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess wird allerdings abrupt gestoppt, wenn man die Plattform nicht frei weiterentwickeln kann, sondern von der Entwicklung eines Produktes durch einen Software-Hersteller abhängig ist. Aus diesem Grund entwickeln die meisten Internetunternehmen die zentralen Applikationen für das Kerngeschäft individuell und optimieren diese ständig.

Entwickeln oder entwickeln lassen?

Internetunternehmen tendieren dazu, möglichst viel selbst zu entwickeln, um das Know-how rund um die Produkte und Dienstleistungen im eigenen Haus zu halten und aufzubauen. Denn sie wollen bei Kernkomponenten nicht von Dienstleistern abhängig sein. Begünstigt wird dies sicherlich auch durch die hochprofitablen Geschäftsmodelle von Unternehmen wie Google, Facebook oder Ebay. Sie können es sich schlicht leisten. Deshalb steht bei ihnen strategische Sicherheit vor Kostenoptimierung mittels einer Supply Chain. Überraschend ist, dass große Internetunternehmen abseits ihres Kerngeschäfts sogar Basistechnologien wie Dateisysteme, Datenbanken, Hardware, RZ-Technologien selbst entwickeln.

Dass im Gegensatz dazu klassische Großunternehmen stärker zur Vergabe von Entwicklungsprojekten nach außen tendieren, hat zwei Gründe:

  • Die meisten Unternehmen zählen Softwareentwicklung nicht zu ihren Kernkompetenzen und lagern diese seit langem aus. Dementsprechend sind auch keine internen Ressourcen dafür vorhanden.

  • Industrieunternehmen sind es gewohnt, mit vielen Zulieferern zu arbeiten und über die Supply Chain Kosten zu optimieren.

Projektmanagement-Methoden

Auch bei den Projektmanagement-Methoden unterscheiden sich traditionelle Konzerne von Internetunternehmen. Während Internetunternehmen getrieben durch die Softwareentwicklung von agilen Methoden wie Scrum oder Kanban beeinflusst sind, arbeiten die meisten IT-Abteilungen traditionell mit dem Wasserfallmodell: Analyse, Pflichtenheft, Umsetzung, Abnahme und dann Regelbetrieb. Agile Methoden zielen dagegen eher auf einen iterativen Ansatz der ständigen Verbesserung und Weiterentwicklung ab.

Der Einsatz von Open Source im Unternehmen

Natürlich entwickeln auch Internetunternehmen nicht alles selbst. Auffällig ist, dass auch sehr große Internetunternehmen viel Open-Source-Software einsetzen, obwohl sie sich auch die in der Corporate IT beliebten IBM- oder Oracle-Produkte leisten könnten. Wenn die Kosten keine Rollen spielen, was könnte der Grund für diese Entscheidung sein?

Open-Source-Software bietet insbesondere bei einer großen Entwickler-Community den Vorteil der Unabhängigkeit von einzelnen Herstellern. Durch die offene Struktur von Open-Source-Projekten lässt sich frei entscheiden, wie viel internes Know-how im Unternehmen aufgebaut wird. Von einer reinen Nutzung mit zugekauftem Support bis zur aktiven Teilnahme an den Projekten mit eigenen Entwicklungen ist vieles möglich. Aus der Perspektive des Betriebs von Infrastruktur bietet Open-Source-Software die Möglichkeit, bei der Fehlersuche bis auf die Codeebene hinunterzugehen, ohne auf einen kommerziellen Support angewiesen zu sein. Gerade bei kritischen Plattformen ist es sehr frustrierend, wenn ein wichtiger Dienstleister seine SLAs bricht und man nichts tun kann, außer auf einen Rückruf zu warten.

Gerade bei kommerzieller Software, bei der das Tiefen-Know-how nicht so weit verbreitet ist wie zum Beispiel bei Microsoft oder Oracle, ist es sehr schwer, Workarounds zu finden, wenn der Support oder der Dienstleister versagen. Bei Open-Source-Produkten sind in der Regel große Wissensdatenbanken im Internet verfügbar, in denen man zu allen bekannten Fehlern die dazugehörigen Workarounds beschrieben findet. Oder man kann - wenn auch das nicht hilft - direkt mit der Entwicklergemeinde in Kontakt treten.

Die Corporate IT denkt genau umgekehrt und versucht, so viel Verantwortung wie möglich - und damit ist unweigerlich auch Know-how verbunden - für ihre Plattformen auszulagern und präferiert kommerzielle Software mit Supportverträgen. Ähnlich wie bei der Frage "auslagern oder selbst machen" sichert sich natürlich auch der einzelne Entscheider damit ab. Bei Problemen mit Unternehmen wie SAP, IBM oder Microsoft wird niemandem gekündigt, bei Problemen mit einer Open-Source-Software gegebenenfalls schon.

Die Beurteilung von Risiken in Projekten wird von der Corporate IT dann nach Aktenlage entschieden. Hersteller X garantiert mir in den SLAs 99,99 % Verfügbarkeit, Hersteller Y 99,5 % und so weiter. Nur was passiert, wenn die Hersteller diese SLAs nicht einhalten? Traurig, aber wahr: Je größer der Hersteller, desto weniger. Meistens also gar nichts.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Es gibt sehr viel ausgezeichnete kommerzielle Software und die kann auch problemlos produktiv eingesetzt werden. Es geht mir nur darum, die Risiken aufzuzeigen und zu erklären, warum in Internetunternehmen Open-Source-Software so beliebt ist.

Ein weiterer Grund für den Einsatz von Open-Source-Software ist die Möglichkeit, auf der vorhandenen Basis eine eigene angepasste Lösung zu entwickeln. Da Internetunternehmen häufig vieles selbst entwickeln, wird das gerne genutzt. In der Corporate IT weniger, da dort auch weniger Entwicklungsressourcen vorhanden sind.

Fazit

Es ist offensichtlich, dass Unternehmen aus der Dienstleistungs-, Telekommunikations- oder Handelswelt sich besser für die Zukunft aufstellen können, wenn sie einige Methoden der Internetunternehmen übernehmen. Da aber gleichzeitig auch viele Unterschiede in der DNA der Unternehmen existieren, muss der Anstoß zum Wandel von ganz oben kommen. Nur der Vorstand kann die Unternehmenskultur ändern und die Türen für neue Methoden öffnen - dabei ist zu hoffen, dass der CIO Teil des Vorstandes ist. Das mittlere Management in der IT muss motiviert und ermutigt werden, mehr Verantwortung zu übernehmen, eigenes Know-how in den Abteilungen aufzubauen und auch mal ergebnisoffene Projekt zu wagen, flexibler zu budgetieren und vieles mehr.

In den Worten von Jeff Bezos, dem Gründer von Amazon, klingt das dann so: "If you never want to be criticized, for goodness' sake don't do anything new." (bw)