Wann lohnt sich der ITSM-Aufwand?
Im Prinzip stimmten die - sämtlich aus der ITSM-Industrie stammenden - Experten dieser Einschätzung zu - mit gewissen Einschränkungen allerdings. So postulierte Ingo Bollhöfer, Managing Director bei PCMS.helpLine Software, ITIL müsse für Nicht-ITler so übersetzt werden, dass diese Sinn und Nutzen verstehen.
Ein anderer Teilnehmer der Runde erinnerte daran, dass sich außerhalb der Kern-IT sehr wohl Widerstände gegen standardisierte Prozesse regen könnten: Martin Landis, heute Business Unit Manager bei der USU AG, hat vor einigen Jahren auch einmal einen Start-up-Ableger des Unternehmens geführt. Dort habe man zumindest die "schwergewichtigen" ITIL-Prozesse eher kritisch gesehen.
"Das, was ITIL zum Beispiel im Change- und Release-Management beschreibt, ist für die agile Welt zu starr", stellte Landis klar. "Solche Prozesse taugen nicht, um zu Beginn eines agilen Projekts DevOps-Umgebungen oder hybride Infrastrukturen zu managen." Er habe seinerzeit festgestellt, dass eine agile Umgebung auch ohne solche Prozesse und Standards funktionieren kann, zumindest für eine gewisse Zeit. Schließlich gehe ja durchschnittlich nur eins von zehn Projekten tatsächlich in Betrieb.
Agil und ITSM muss kein Widerspruch sein
Allerdings wollte Landis die Vorteile eines strukturierten ITSM auch für agile Projekte nicht pauschal in Abrede stellen: "Das kann die Entwicklung in agilen Projekten auch entscheidend beschleunigen. Wenn beispielsweise die Entwickler über einen zentralen Service-Shop vollautomatisiert und in Sekundenschnelle Cloud-Ressourcen bestellen, verändern oder auch wieder stoppen können, ist das sehr hilfreich."
Fazit der Runde: ITSM und agil müssen keine Gegensätze sein. Zu hinterfragen ist allerdings immer: Zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen und für welche Prozesse lohnt es sich, ein IT-Service-Management aufzusetzen? Und wie können die Unternehmen zweigleisig fahren, also bestimmte Projekte zumindest in der Anfangsphase auch mal am Standardprozess vorbei handhaben, ohne damit gleich das gesamte Service-Management über den Haufen zu werfen?
Bimodal - mit und ohne ITSM
Die letztgenannte Frage ist vor allem für solche Unternehmen wichtig, die eine "IT der zwei Geschwindigkeiten" eingerichtet haben. Diese - auch bimodale IT genannte - Form der IT-Organisation geht davon aus, dass nicht-lineare, sprich: kurzfristig umgesetzte, experimentelle und meist stark kundenbezogene Anwendungen nicht unbedingt denselben Standards unterworfen werden müssen wie langlebige, auf Zuverlässigkeit gepolte Enterprise-Systeme.
Als Urheber des "bimodalen" Modells gilt das Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Gartner. Dessen Konkurrent Forrester Research, schien sich dieser Empfehlung anfangs anzuschließen und sprach in diesem Zusammenhang von Begriffen wie "Systems of Record" und "Systems of Engagement". Allerdings sind sich die Forrester-Analysten mittlerweile gar nicht mehr so sicher, ob diese Organisationsform wirklich der Weisheit letzter Schluss ist.
Auch unter den IT-Entscheidern in den Anwenderunternehmen gibt es mittlerweile viele, die zumindest eine strikte Trennung der beiden Bereiche ablehnen. Ihrer Ansicht nach steigert die Zweigleisigkeit die Komplexität der IT-Organisation; außerdem berge sie Gefahr einer "Zweiklassengesellschaft".
Bimodal verursacht mehr Komplexität
Ottmar Höhenberger, Geschäftsführer bei Omninet Solutions, kritisierte diesen Ansatz ebenfalls: "Ich brauche keine zwei Geschwindigkeiten, sondern eine flexible Bandbreite und cross-funktionale Rollen", konstatierte er. "Bimodale IT heißt höhere Komplexität, und die ist für mich konträr zu einer pragmatischen und agilen Kundenausrichtung."
Mehrheitlich waren sich die eingeladenen Experten allerdings darin einig, dass es in den meisten Unternehmen zumindest zwei Typen von IT-Projekten und -Systemen gibt, die hinsichtlich der IT-Service-Prozesse unterschiedlich zu handhaben sind. itSMF-Vorstand Handgrätinger outete sich sogar als "Fan des bimodalen Organisationsmodells": Es gebe in den Konzernen und Verwaltungen "immer Bereiche, die in einem kreativen Umfeld neue Lösungsansätze schnell entwickeln möchten".
Wie Handgrätinger ergänzte, bringt eine IT im - dezidiert agilen - "Modus II" auch neue Betreiberformen, beispielsweise Cloud-Lösungen, mit sich, was wiederum zu Lasten von formalen Prozessen für Beschaffung und Service-Management gehen könne. Der Anbieter der Cloud-Software hingegen, da ist sich der Experte sicher, betreibe selbstverständlich ein striktes ITSM.
Die Zukunft des ITSM
Stichwort: Anwendungen aus der Cloud - für die anwesenden Vertreter der Tool-Industrie gehören die längst zum IT-Alltag: Ausnahmslos alle Teilnehmer reklamierten für sich, den Bezug ihrer Produkte aus dem Netz und im Abonnement zu offerieren.
Nicht ganz so selbstbewusst waren die Softwarehäuser hinsichtlich ihrer Unterstützung für das Management hybrider Umgebungen oder der Handhabung einer bimodalen IT auf der Kundenseite. Auch das Internet of Things (IoT) sowie Machine-Learning- und andere AI-Systeme (Artificial Intelligence) ließen sich derzeit nur mit viel Eigenaufwand in ITSM-Umgebungen einbinden, klang in der Diskussion durch. Und diesen Aufwand scheuten nach den Erfahrungen der Experten derzeit noch viele Unternehmen.
Selbst vergleichsweise simple und naheliegende Funktionen wie die Einbindung von Wissens-Management sind oft noch Mangelware, wie Bollhöfer bestätigte: "Lösungswissen ist in den ITSM-Systemen häufig nicht optimal hinterlegt." Was wirklich schade sei, denn "damit fehlen die Grundlagen für bessere Lösungsquoten, aber auch wichtige Voraussetzungen für den sinnvollen Einsatz von AI und Bots im IT-Service-Management."
In nicht allzu ferner Zukunft werden die ITSM-Tools möglicherweise auch Big-Data-Analytics-Komponenten aufweisen. Dazu Landis: "Die gleichen Mustererkennungsmechanismen wie bei den im Maschinenbau eingesetzten Predictive Analytics-Anwendungen lassen sich auch im Service-Management verwenden." Beispiele aus dem Security-Bereich gebe es schon: "Aber da sind wir noch im Forschungsstadium."