Experten diskutieren SAP S/4HANA

Wer früher plant, migriert besser

10.07.2023
Von 
Dr. Andreas Schaffry ist freiberuflicher IT-Fachjournalist und von 2006 bis 2015 für die CIO.de-Redaktion tätig. Die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Berichterstattung liegen in den Bereichen ERP, Business Intelligence, CRM und SCM mit Schwerpunkt auf SAP und in der Darstellung aktueller IT-Trends wie SaaS, Cloud Computing oder Enterprise Mobility. Er schreibt insbesondere über die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen IT und Business und die damit verbundenen Transformationsprozesse in Unternehmen.
Der Umstieg auf SAP S/4HANA bedeutet einen Technologiewechsel, der tiefgreifende Veränderungen mit sich bringt.
Auf S/4HANA zu migrieren, stellt weit mehr als nur ein Upgrade dar. Entsprechend muss auch die Planung ausfallen.
Auf S/4HANA zu migrieren, stellt weit mehr als nur ein Upgrade dar. Entsprechend muss auch die Planung ausfallen.
Foto: eamesBot - shutterstock.com

Stand heute stehen die Leistungen der Mainstream-Wartung für SAP ERP (SAP ECC 6.0) beziehungsweise die SAP Business Suite noch bis Ende 2027 zur Verfügung. Ab diesem Zeitpunkt bietet SAP optional eine Extended Maintenance (erweiterte Wartung) des bisherigen SAP-ERP-System bis Ende 2030 an, die aber um einiges teurer ist als die Standardwartung. Diese normative Kraft des Faktischen zwingt ERP-Kunden von SAP, den Wechsel auf SAP S/4HANA frühzeitig zu planen und umzusetzen.

2027 klingt zwar fern, doch der mit dem Umstieg auf diese ERP-Suite verbundene Aufwand ist nicht zu unterschätzen. Das gilt unabhängig von der gewählten Methode, egal, ob

  • Neuimplementierung nach dem Greenfield-Ansatz auf Basis von SAP Best Practices,

  • System Conversion nach dem Brownfield-Ansatz, oder

  • Hybridmodell (Colorfield/ Selective-Data-Transition).

Informationen zu den Partner-Paketen der Studie 'SAP S4/HANA 2023'

S/4HANA braucht Change Management

SAP-Kunden müssen sich zudem im Klaren darüber sein, dass es sich beim Umstieg auf S/4HANA nicht um ein Upgrade oder den Release-Wechsel auf eine neue ERP-Version handelt. Es steht vielmehr ein kompletter Technologiewechsel weg von der Client-Server- und hin zu einer cloudbasierten Architektur an. Darin stimmten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der COMPUTERWOCHE-Expertenrunde zum Thema "SAP S/4HANA" weitgehend überein.

Schon der obligatorische Wechsel auf die HANA-Datenbank verändere die IT-Infrastruktur. Auch das Betriebsmodell ist flexibel: SAP S/4HANA lässt sich wahlweise On-Premises, in einer Private Cloud oder in der Public Cloud eines Hyperscalers nutzen. Mit SAP S/4HANA Cloud gibt es die ERP-Lösung zudem als Software-as-a-Service (SaaS) in Form einer Public Edition als standardisierte Multi-Tenant-Lösung oder als Private Edition, die sich individuell anpassen lässt.

Egal, ob Neuimplementierung oder Systemkonvertierung: Ein Wechsel auf SAP S/4HANA ist ein Transformations- und Organisationsprojekt, für dessen Erfolg kluges Change Management unverzichtbar ist, umso mehr als er auch Änderungen an Prozessen und gewohnten Arbeitsweisen mit sich bringt. Die späteren End User sind daher frühzeitig ins Boot zu holen, um die Nutzerakzeptanz zu gewährleisten. Last, but not least führt bei der Einführung von SAP S/4HANA auch kein Weg am Betriebsrat vorbei, da hierbei Mitbestimmungsrechte berührt werden. So gibt es zum Beispiel Veränderungen von Arbeitsabläufen, -organisation und -umgebung oder in Bezug auf die Speicherung personenbezogener Daten.

Schlanker ERP-Kern trifft Cloud-Prozesse

Der Umstieg auf die neue ERP-Suite bietet auch die Möglichkeit, nicht mehr verwendete und/oder nicht mehr lauffähige Add-ons, Funktionen und Eigenprogrammierungen zu sperren oder zu löschen und somit "alte Zöpfe" abzuschneiden und den ERP-Kern zu verschlanken. Zugleich lassen sich nicht oder geringfügig individualisierte ERP-Prozesse wie Purchase to pay oder die Abläufe im Finanzwesen - Stichwort Universal Journal - standardisieren und somit vereinfachen.

Geht es um die Frage "SAP-Standard oder Eigenentwicklungen?" prallen innerhalb eines Unternehmens oft Welten aufeinander. Die Geschäftsleitung beziehungsweise das Management bevorzugt die Nutzung von S/4HANA-Standardprozessen und schließt entsprechende Verträge ab. Fachbereiche, in denen das Prozesswissen angesiedelt ist und die eine klare Vorstellung über die Abwicklung ihrer Abläufe haben, fordern dagegen auf ihre Anforderungen zugeschnittene Funktionen.

Solche individuellen Prozesse, vor allem wenn sie wertschöpfend sind oder ein Alleinstellungsmerkmal darstellen, bildet der ERP-Standard in den meisten Fällen nicht zufriedenstellend ab. Sie können in Form einer Cloud-Lösung in die SAP Business Technology Platform (SAP BTP) ausgelagert werden. Auf diese Weise entsteht ein von Altlasten und dem in der SAP-ERP-Welt häufig anzutreffendem Wildwuchs an Eigenentwicklungen und Modifikationen befreites und schlankes ERP-Kernsystem.

Studie "SAP S/4HANA 2023": Sie können sich noch beteiligen!

Zum Thema SAP S/4HANA führt die COMPUTERWOCHE derzeit eine Multi-Client-Studie unter IT-Verantwortlichen durch. Haben Sie Fragen zu dieser Studie oder wollen Sie Partner werden, helfen Ihnen Regina Hermann (regina.hermann@foundryco.com, Telefon: 089 36086 161) und Manuela Rädler (manuela.raedler@foundryco.com, Telefon: 089 36086 271) gerne weiter. Informationen zur Studie finden Sie auch hier zum Download (PDF).

Wird SAP Opfer des eigenen Erfolgs?

Allerdings besteht die Gefahr, dass SAP-Kunden bei sogenannten Line-of-Business-Prozessen (LOB), etwa für CRM-/Customer-Experience- oder Supply-Chain-Prozesse, auf IT-Lösungen anderer etablierter Anbieter oder auf spezielle Nischenprodukte zurückgreifen. SAP BTP stellt die erforderlichen Integrationstechnologien bereit, um SAP S/4HANA bidirektional mit entsprechenden Non-SAP-Anwendungen wie Salesforce, Microsoft Dynamics 365 oder ServiceNow zu vernetzen.

Das ist jedoch kein Nachteil, da Unternehmen inzwischen verstärkt digitale End-to-End-Prozesse und Workflows etablieren wollen. Alles in allem gewinnen SAP-Kunden so die Flexibilität, das für ihre Prozessanforderungen besten geeignete Softwareprodukt zu wählen. Hier besteht die Gefahr, dass SAP das Opfer des eigenen Erfolgs werden könnte, weil Kunden bei LOB-Prozessen und speziellen Prozessanforderungen lieber auf Third-Party-Lösungen zurückgreifen.

Eine solche "Modularisierung" führt nicht dazu, dass die SAP- beziehungsweise IT-Landschaft einfacher wird, sondern macht sie eher komplexer. Daher ist ein Prozess- und Governance-Modell unverzichtbar, das genau festlegt, welche Prozesse im ERP-Kernsystem laufen und welche Abläufe in SAP BTP, eine Non-SAP-Lösung oder den Cloud-Service eines Hyperscalers ausgelagert werden (dürfen). Ein Teilnehmender an der Diskussion wagte die Prognose, dass SAP-Kunden beim Walldorfer Softwarehersteller in Zukunft End-to-End-Prozesse statt eines integrierten ERP-Systems beziehen wollen. Inwiefern das realistisch ist, wird sich zeigen.

Eines stand für die an der Diskussionsrunde teilnehmenden Expertinnen und Experten fest: Wer sofort von den Innovationen profitieren will, die SAP S/4HANA bietet, zum Beispiel Fiori-Apps, konfigurierbare Flexible Workflows oder Robotic Process Automation (RPA), komme nicht um eine Greenfield-Implementierung herum. Das sei durchaus wettbewerbsrelevant, da Firmen, die ihr SAP-ERP-System durch eine Konversion eins zu eins auf SAP S/4HANA migrieren, in der neuen Umgebung zunächst stabil arbeiten und Innovationsprojekte erst zu einem späteren Zeitpunkt initiieren wollen. Es gibt auch Unternehmen, die vor dem SAP-S/4HANA-Umstieg zurückschrecken, weil sie ihr SAP-ERP-System über die Jahre stark an ihre eigenen Anforderungen angepasst haben und nun fürchten, dass individuelle Funktionen und Prozesse nach dem Wechsel nicht mehr laufen.

SAP in der Kritik

Die Expertenrunde sparte nicht mit Kritik an SAP, allen voran was Ankündigungen zur SAP-S/4HANA-Entwicklung, das neue Konzept für die Branchenlösungen (SAP Industry Solutions) und die Preis- und -Lizenzpolitik im Cloud-Umfeld angeht.

Da SAP S/4HANA bereits seit 2015 auf dem Markt ist, wäre zu erwarten, dass bereits deutlich mehr SAP-Kunden den Umstieg vollzogen haben als bislang. Ein Grund für die Zurückhaltung sei, dass der Walldorfer Konzern in Bezug auf die neue ERP-Suite in der Vergangenheit zwar zahlreiche Ankündigungen gemacht, viele davon aber nicht eingehalten hat. Man denke nur an SAP Fiori-Apps, die alle alten Transaktion ersetzen sollten (GUI, Web Dynpro ABAP, HTML) oder die Unterstützung des GAEB-Formats, das für die Baubranche von hoher Bedeutung ist.

Problematisch sei auch die SAP Industry Cloud als Nachfolger der bewährten SAP Industry Solutions, die meist in enger Zusammenarbeit zwischen SAP, SAP-Partnern und Kunden entstanden. Die Branchenlösung IS-H für Patientenmanagement und -abrechnung wird 2030 sogar komplett aus der Wartung genommen und nicht mehr weiterentwickelt. Erst vor kurzem hat SAP, auch auf Druck der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG), das Wartungsfenster für ihre Fertigungslösungen SAP Manufacturing Execution Systems (SAP MES) und SAP Manufacturing Integration and Intelligence (SAP MII) bis Ende 2030 verlängert.

Missbilligung rief bei der Expertenrunde das aus ihrer Sicht komplexe und wenig transparente Preis- und -Lizenzmodell im Cloud-Umfeld hervor, speziell in Bezug auf SAP BTP. In diesem Punkt herrsche demnach großer Nachholbedarf. Ganz abgesehen davon bleibe SAP seinen Kunden bislang die Antwort schuldig, wie es nach SAP S/4HANA weitergeht. Schließlich sei diese ERP-Suite nicht der Endpunkt der Entwicklung.

Informationen zu den Partner-Paketen der Studie 'SAP S4/HANA 2023'