Digitalisierung bei dm Drogeriemarkt

Wenn der Roboter die Filiale scannt

29.12.2022
Von 
Wolfgang Herrmann ist IT-Fachjournalist und Editorial Lead des Wettbewerbs „CIO des Jahres“. Der langjährige Editorial Manager des CIO-Magazins war unter anderem Deputy Editorial Director der IDG-Publikationen COMPUTERWOCHE und CIO sowie Chefredakteur der Schwesterpublikation TecChannel.
Mit Automatisierungstechnik und einer produktorientierten IT-Organisation treibt Roman Melcher die Digitalisierung der Drogeriemarktkette dm voran.
„Die Produktorientierung macht die IT schneller, es gibt deutlich weniger Abstimmungsaufwand“, sagt Roman Melcher, der bei dm nicht nur die IT verantwortet, sondern auch in der Geschäftsführung sitzt.
„Die Produktorientierung macht die IT schneller, es gibt deutlich weniger Abstimmungsaufwand“, sagt Roman Melcher, der bei dm nicht nur die IT verantwortet, sondern auch in der Geschäftsführung sitzt.
Foto: dm

Automatisierung ist für Roman Melcher nichts Neues. "Wir machen seit 30 Jahren nichts anderes", sagt er im Interview mit dem CIO-Magazin. Allerdings setze man heute andere Technologien ein und erreiche einen viel höheren Durchdringungsgrad bis in die Fachbereiche hinein. Melcher kennt dm aus dem Effeff. Schon seit 1987 arbeitet er für das Unternehmen, inzwischen ist er nicht nur verantwortlich für die IT-Tochter dmTECH, sondern auch stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsführung.

"Wir prüfen sämtliche Prozesse daraufhin, ob sie Wertschöpfung im Sinne von Produktivitätssteigerung generieren", erklärt er das Vorgehen. "Bis 2030 verlieren wir in Deutschland rund fünf Millionen Erwerbstätige. Ohne einen verstärkten Technologieeinsatz und mehr Automatisierung ist das nicht zu kompensieren."

Das 1973 in Karlsruhe gegründete Unternehmen beschäftigt mehr als 46.300 Menschen und ist Deutschlands umsatzstärkster Drogeriekonzern. Über ein Netz von 3.945 Filialen in Europa offeriert dm mehr als 12.500 Artikel, im Online-Shop ist das Sortiment mit gut 18.000 Artikeln noch breiter. Eine effiziente Logistik ist in diesem Konstrukt erfolgsentscheidend. Melcher sieht hier das größte Potenzial für Digitalisierung und Automatisierung.

Digitaler Zwilling steigert Effizienz der dm-Märkte

Im Verteilzentrum in Wustermark bei Berlin etwa kommissionieren schon jetzt Roboter rund 50 Prozent der Artikel. Vorgelagerte Robotertechnik sorgt zudem für einen durchgängig automatisierten Warenfluss. Für die Filialen hat dm digitale Zwillinge entwickelt, mit deren Hilfe Mitarbeitende beispielsweise jederzeit nachvollziehen können, wo sich einzelne Artikel in einem Drogeriemarkt befinden. Um den "digitalen Filialzwilling" mit den nötigen Daten zu versorgen, setzt Melcher auf spezialisierte Scanroboter des Bremer Startups Ubica. Sie erfassen, erkennen und identifizieren täglich das Mobiliar und den Warenbestand in den Pilot-Märkten.

Um den "digitalen Filialzwilling" mit den nötigen Daten zu versorgen, setzt dm auf spezialisierte Scanroboter des Bremer Startups Ubica.
Um den "digitalen Filialzwilling" mit den nötigen Daten zu versorgen, setzt dm auf spezialisierte Scanroboter des Bremer Startups Ubica.
Foto: WFB/Sarbach

Das Handelsunternehmen arbeitet zudem intensiv an den digitalen Kundenschnittstellen. Seit vielen Jahren fließen Kundendaten vor allem über das Payback-Kartensystem in die eigenen IT-Systeme. Melcher will Kundenkontakte ergänzend zu Payback künftig viel stärker über die hauseigene dm-App steuern und die Payback-Daten dort integrieren.

Auf diesem Weg könne man den Kunden beispielsweise während des Einkaufs im Markt maßgeschneiderte Produktinformationen zuspielen. "Dazu muss die App attraktiv sein", so der IT-Chef. "Sie darf keine platte Werbung präsentieren, sondern muss wirklich nützliche Informationen liefern." Heute benutzten dm-Kunden die App etwa zum mobilen Bezahlen und für den automatisierten Checkout beim Verlassen des Ladens, aber auch für Online-Einkäufe. Im vergangenen Geschäftsjahr wurden 59 Prozent der Onlinebestellungen über die App abgeschlossen.

"Wir sind hier größer als Amazon"

Neben dem stationären Geschäft habe dm in den vergangenen Jahren den größten Online-Shop für Drogeriemarktprodukte in Deutschland aufgebaut, berichtet Melcher selbstbewusst: "Wir sind hier unseres Wissens größer als Amazon." In Sachen Sortimentsbreite, Kompetenz und Preisgestaltung könnten die internationalen Online-Riesen nicht mithalten.

Besonders erfolgreich entwickelt sich das Click + Collect-Modell, das dm unter dem Namen "Express-Abholung" anbietet. Kunden stellen sich dabei ihre Waren im Online-Shop zusammen und nehmen sie anschließend an einer Abholstation im Markt entgegen. Das funktioniert ähnlich wie die DHL-Packstationen. Die Türen lassen sich per Smartphone öffnen. Die positive Resonanz auf das eigentlich für die Corona-Ausnahmesituation entwickelte Modell hat das Management überrascht. Inzwischen wickele man 25 Prozent der Online-Einkäufe auf diesem Weg ab, sagt Melcher.

Data Governance und Analytics

Der Umgang mit Daten, beispielsweise zu Umsätzen, Lagerbeständen und Produktivität, ist für die dm-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter erfolgskritisch. Einige Angestellte wurden früher sogar darin geschult, Informationen mithilfe von SQL-Statements selbst aus der Datenbank zu fischen, erinnert sich der IT-Chef. Heute stellt die IT dafür Dashboards zur Verfügung, die Daten und Reports aus dem Data Warehouse im Backend liefern.

Doch das wird künftig nicht mehr ausreichen. Melcher will tiefere Analysen und Interpretationen des stetig wachsenden Datenbestands, um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dazu brauche es Spezialisten wie Data Analysts und Data Scientists, um die man sich derzeit bemühe. Auch in Sachen Data Governance und Data Management sind dafür noch Hausaufgaben zu erledigen. So muss dm beispielsweise lokale und prozessspezifische Daten mit zentral vorgehaltenen Informationen verknüpfen.

Produktorientierte IT statt Shared Services

Schon 2014 hat Melcher damit begonnen, eine produktorientierte IT-Organisation mit weitgehend selbständigen Teams aufzubauen. Das bis dato verfolgte Shared-Services-Modell war ihm zu schwerfällig und zu aufwändig. "Die Produktorientierung macht die IT schneller, es gibt deutlich weniger Abstimmungsaufwand", beschreibt er die Vorteile. Die Teams arbeiteten durchgängig mit agilen Methoden, er selbst habe sich intensiv mit dem agilen Manifest für die Softwareentwicklung beschäftigt.

Die Produktorientierung wirkt sich auch auf die Kernanwendungen aus. Melcher will künftig etwa auch SAP-Systeme häufiger aktualisieren, nicht nur über klassische Add-ons, sondern auch mit eigenentwickelten Erweiterungen: "Zur Not machen wir das alle vier Wochen."

Verabschiedet hat sich dm vom Konzept einer zentralen Organisationseinheit für Innovationen. Das habe sich nicht bewährt, urteilt Melcher. Zwar sei es gelungen, auf diesem Weg in kurzer Zeit neue Ideen zu entwickeln. Doch seien diese anschließend nicht ausreichend in bestehende Systeme und Strukturen integriert worden. Heute laute die Devise: "Innovationen entstehen in den Produktteams."

Kernsysteme wandern in die Cloud

Im Backend hat der IT-Chef die Weichen in Richtung Cloud Computing gestellt. dm betreibt eine Reihe von Kernanwendungen, sogenannte Konzernsysteme, zu denen auch "Omnichannel Retail" (OCR) gehört. "Dieses System haben wir komplett nach Cloud-native-Prinzipien in der Google-Cloud entwickelt", betont Melcher. Der Cloud-Provider stelle die dafür benötigte Infrastruktur zur Verfügung, beispielsweise die Container-Orchestrierungsplattform Kubernetes. Seit 2015 werde OCR kontinuierlich in agilen Sprints weiterentwickelt, alle 14 Tage gebe es Neuerungen. Anwendungen, die direkt auf den Kunden ausgerichtet sind, entwickele man überwiegend selbst.