Balance zwischen Technik und Vertrieb
SAP braucht die richtige Balance zwischen Produkt- und Vertriebsfokus, bekräftigt auch Forrester-Analyst Ried. Mit dem Führungs-Duo aus dem Vertriebsspezialisten McDermott und dem Technik- und Produkt-orientierten Snabe habe diese Balance gut und erfolgreich funktioniert - auch nachdem Snabe seinen Rückzug angekündigt hatte, weil mit Sikka eine andere starke Führungspersönlichkeit mit Technikfokussierung bereit stand, die Lücke zu füllen. Mit Sikkas Abschied neigt sich die Waage nun jedoch auf die Seite des Vertriebs.
Eine zu einseitige Orientierung könne jedoch gefährlich werden, warnt Ried und führt als Beispiel die Ära Apotheker an. Nachdem der Vertriebsspezialist Ende Mai 2009 nach dem Rückzug des ebenfalls eher technisch orientierten Hennig Kagermann alleiniger CEO von SAP wurde, schaffte er es innerhalb weniger Monate mit einer komplett verunglückten Kommunikationsstrategie rund um die Erhöhung der Wartungsgebühren das Vertrauen der Kunden zu verspielen. Das kostete Apotheker schließlich seinen Stuhl. Nach nicht einmal einem Jahr zog Aufsichtsratschef Plattner die Reißleine und erklärte im Februar 2010, dass Apothekers Vertrag nicht verlängert werde. Dieser erklärte daraufhin seinen Abschied. Die Nachfolger McDermott und Snabe brauchten viel Geduld und Einfühlungsvermögen, den Scherbenhaufen, den ihnen ihr Vorgänger hinterlassen hatte, wieder zu kitten.
SAP nimmt neuen Plattformanlauf
Diese Fehler dürfen sich nicht wiederholen. "SAP braucht eine ordentliche Produktstrategie", sagt Ried. In diesem Bereich lägen auch die großen Hausaufgaben des Softwarekonzerns. SAP versuche derzeit mit HANA einen neuen Anlauf in Sachen Plattform, nachdem man mit Netweaver außerhalb der SAP-Applikationen gescheitert sei. Den Anspruch, sich auch als Anwendungsplattform für Produkte von anderen Anbietern im Markt zu etablieren, habe Netweaver nie erfüllen können. Nun nehme SAP mit HANA einen neuen Anlauf. Allerdings fehle derzeit noch die nötige Marktreife, stellt der Forrester-Analyst fest.
Im Rahmen von SAP-Installationen könne HANA zwar überzeugen. Den Beweis, dass HANA auch außerhalb der SAP-Welt funktioniert, habe die Plattform indes noch nicht antreten können, stellt Ried fest. Auch die Eignung HANAs für den Provider-Einsatz lasse noch zu wünschen übrig. Die Plattform sei primär auf eine Nutzung als Single-Tenant-Enterprise-Lösung ausgelegt. Für einen Multi-Tenant-Einsatz müssten Provider mit virtuellen Maschinen hantieren. Doch das funktioniere dies im Umfeld von In-Memory-Technik nur begrenzt, urteilt der Forrester-Experte.
Die zweite Baustelle bilden SAPs Cloud-Plattformen. Gerade durch die Zukäufe der vergangenen Jahre wie SuccessFactors im Human-Resources-Umfeld (HR) sowie der Cloud-Einkaufsplattform Ariba habe sich an dieser Stelle eine gewisse Heterogenität bei SAP eingeschlichen. Wie damit umzugehen sei, war in der Vergangenheit offenbar umstritten, berichtet Ried. Der ehemalige Cloud-Chef von SAP, Lars Dalgaard - Ex-CEO von SuccessFactors -, hatte offenbar kein Problem unterschiedliche Cloud-Plattformen zu unterstützen, solang nur entsprechend groß genug seien. Derzeit - Lars Dalgaard ist längst SAP-Geschichte - scheint das Pendel wieder umzuschwingen in Richtung einer einheitlichen Cloud-Plattform. Doch gerade im Cloud-Umfeld seien die Anbieter Ried zufolge auf das Entwickler-Ökosystem angewiesen. Und diese bräuchten Sicherheit hinsichtlich der Plattformstrategie beziehungsweise der Klientel, die damit adressiert werden soll.
Neue Gesichter im SAP-Vorstand
Sikka hinterlässt seinen Nachfolgern also ein gut gefülltes Hausaufgabenheft. Im Zuge des Rücktritts des Technikchefs hat der Softwarekonzern seinen Vorstand neu geordnet. Es rücken der Vertriebschef Rob Enslin sowie der bislang für die Anwendungsentwicklung zuständige Bernd Leukert als weltweiter Entwicklungschef in den Vorstand nach. Beide gehörten bislang dem erweiterten Führungszirkel "Global Managing Board" an.
Leukert, ein langjähriges SAP-Gewächs, könne eine gute Rolle spielen, glaubt Forrester-Experte Ried. Es sei jedoch schade, dass Björn Goerke, der im Herbst vergangenen Jahres den CIO-Posten bei SAP übernommen hatte, offenbar nicht zum Zuge kam. Goerke habe sich in der Vergangenheit in erster Linie um die Plattform gekümmert, während Leukert vor allem für die Applikationen zuständig war. Da die Herausforderungen SAPs jedoch primär auf der Plattformseite liegen, wäre Goerke der bessere Mann gewesen, folgert Ried.
Der Zeitpunkt von Sikkas Abschied und die Neubesetzungen im Vorstand seien Belege dafür, dass SAP allem Anschein nach keine Zeit hatte, die Personalien lange vorzubereiten oder zu planen, und von den Entwicklungen offenbar selbst überrascht wurde, glaubt Frank Scavo, Managing Partner beim IT-Beratungsunternehmen Strativa. Der Experte mutmaßt, Sikka könnte im Vorfeld des Wechsels von Snabe in den Aufsichtsrat Ambitionen als Co-CEO angemeldet haben und nachdem diese abgewiesen wurden, kurzfristig seinen Rücktritt eingereicht haben. Angesichts dieser Eigendynamik habe die SAP-Führung offenbar schnell gehandelt und bereits im Vorfeld der Sapphire Tatsachen geschaffen, um die Unruhe bis dahin etwas ausklingen zu lassen und sich in Orlando auf die zukünftige Strategie konzentrieren zu können. Ganz werden die Diskussionen jedoch nicht abklingen, meint Ray Wang, Chef des Analystenhauses Constellation Research. Die Sapphire-Besucher werden genau hinhören und Fragen stellen, wie die künftige SAP-Strategie aussehen wird. Mit den Antworten dürfe sich die SAP jedoch nicht viel Zeit lassen, "sonst verlieren die Kunden die Geduld".
Eine Frage der SAP-Kultur
Für den neuen starken Mann bei SAP McDermott wird es in Orlando auch darum gehen, neue kulturelle Grabenkämpfe innerhalb der Firma erst gar nicht aufkommen zu lassen. In der Vergangenheit hatte es gerade im Zuge der immer stärker international ausgerichteten SAP-Strategie wiederholt Konflikte zwischen der alteingesessenen Entwicklerfraktion in der Zentrale in Walldorf und den stärker werdenden Dependancen vor allem im Silicon Valley in den USA gegeben. Geschürt wurde der Konflikt auch von den SAP-Verantwortlichen selbst. Erst kürzlich hatte beispielsweise SAP-Gründer Plattner selbst Öl ins Feuer gegossen, als er die Behäbigkeit der deutschen Entwickler kritisierte und mehr Agilität in der Entwicklung einforderte, woraufhin sofort Spekulationen aufkamen, der Konzern plane seine Zentrale ins Ausland zu verlagern - was die Verantwortlichen prompt dementierten. Insider haben auch darüber spekuliert, das den hauptsächlich in den USA arbeitenden Sikka die Bürokratie und Trägheit der deutschen SAP-Organisation zermürbt und schließlich so frustriert habe, dass er seinen Abschied eingereicht habe.
Mit der Besetzung des Vorstands durch die SAP-Veteranen Enslin und Leukert baut der US-Amerikaner McDermott aber offensichtlich Brücken in Richtung der alten SAP-Welt und könnte so die Gemüter schon im Vorfeld zumindest etwas beruhigen. Auf Anwenderseite scheint man den Umbruch indes noch gelassen zu sehen. "Wir haben die Zusammenarbeit mit Vishal Sikka sehr geschätzt. Er hat SAP technologisch stark geprägt", verlautete von Seiten der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG). "Mit dem neuen SAP-Vorstand Bernd Leukert arbeiten wir seit Jahren gut und gerne zusammen. Er weiß, welche Themen die DSAG-Mitglieder beschäftigen."