Nachdem die Produktivität der US-amerikanischen Angestellten in den ersten beiden Jahren der COVID-19-Pandemie und dem damit verbundenen Umzug in die Home-Offices auf ein Rekordniveau gestiegen war, ist sie in der ersten Jahreshälfte 2022 stark gesunken. Das geht aus den Daten des US Bureau of Labor Statistics für das dritte Quartal hervor.
War die Produktivität im ersten Jahresviertel 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bereits um 7,4 Prozent und im zweiten Quartal abermals um 4,1 Prozent zurückgegangen, so lag sie auch in den Monaten Juli bis September im Minus, wenn auch nur um 1,4 Prozent. Damit ist die Arbeitsproduktivität erstmals seit 1982 drei Quartale in Folge zurückgegangen.
Ende 2021 hatte sich die US-Wirtschaft noch über das höchste Produktivitätswachstum seit Jahrzehnten gefreut. Mitten in der Pandemie, im ersten Quartal 2021, nahm die Arbeitsproduktivität gegenüber dem Vorjahr um 4,2 Prozent zu und blieb auf einem hohen Niveau. Im vierten Quartal 2021 stieg sie sogar um 6,6 Prozent.
"Angestellte sind nicht nur fauler"
"Die Gründe für den Rückgang sind eher technischer Natur und liegen nicht nur darin, dass die Arbeitnehmer im Moment fauler sind", sagt Sinem Buber, leitende Wirtschaftswissenschaftlerin bei ZipRecruiter. "Die Menschen sehen nicht ein, warum sie noch härter arbeiten sollen. Viele sind auch ausgebrannt." Aufgrund des Mangels an Talenten und Phänomenen wie der Great Resignation, bei der Fachkräfte in Rekordzahlen kündigen, wachse die Arbeitslast für all jene, die in den Unternehmen beschäftigt sind. Das gelte vor allem für IT-Professionals.
"Die Unternehmen haben mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen, und sie haben gesehen, wie schwer es ist, offene Stellen zu besetzen", so Buber. Es könne Monate dauern, bis man einen qualifizierten Bewerber finde. Die Produktivität sei auch deshalb zurückgegangen, weil viele Arbeitnehmer nicht um ihren Arbeitsplatz fürchten müssten - ganz egal, welche Leistung sie ablieferten. "Das dämpft den Ehrgeiz."
Knallharte Direktive: Wer nicht kommt, muss gehen
Auffällig ist aber eben auch, dass der Rückgang der Arbeitsproduktivität in eine Phase fällt, in der viele Unternehmen von ihren Mitarbeitern verlangen, wieder ins Büro zurückzukehren - oft gegen deren Willen. Umfragen zufolge werden 90 Prozent der Unternehmen im Jahr 2023 verfügen, dass die Angestellten zumindest einige Tage in der Woche ins Büro kommen. Diese Vorgaben scheinen teilweise knallhart durchgesetzt zu werden. Ein Fünftel der Betriebe gibt an, dass Arbeitnehmer, die sich weigern, mit einer Entlassung rechnen müssen.
Caroline Walsh, Vice President of Research bei Gartner's HR Research Practice, mahnt Unternehmen zu mehr Umsicht. Die Argumentation vieler Führungskräfte, wonach Menschen im Firmenbüro effektiver arbeiteten, lasse sich von der Forschung nicht bestätigen. "Wir wissen, dass CEOs und andere Manager besorgt sind, dass im Home-Office die Arbeit nicht erledigt wird", berichtet Walsh. Das habe sich nicht bewahrheitet.
ZEW-Prognose: Die Arbeitszeit im Home-Office steigt stark an
Wenn Unternehmen die Beschäftigten zurück in die Büroräume zwingen, dann schreiben sie der Analystin zufolge meistens ziemlich platt vor, wer wann und wie oft anwesend sein soll. "Aber sie sagen ihren Leuten nicht, warum sie wieder ins Büro gehen müssen", so Walsh. "Das ist unglaublich entmündigend und demotivierend für die Mitarbeiter - insbesondere für diejenigen, die im Laufe der Zeit bewiesen haben, dass sie gut aus der Ferne arbeiten können", so Walsh.
Gefahr des "Präsentismus"
Tatsächlich führe die erzwungene Rückkehr ins Büro oder - noch schlimmer - der Versuch, Remote-Mitarbeiter mit einer Software zu überwachen, in der Regel zu "Präsentismus", lautet Walshs Fazit. Die Beschäftigten täten dann so, als würden sie härter arbeiten, indem sie sich oft in Videokonferenzen zeigten oder mehr E-Mails verschickten. Produktiver seien sie deshalb aber nicht, im Gegenteil.
Zu alldem komme der wachsende Stress, den Walsh auf eine hohe Veränderungsgeschwindigkeit am Arbeitsplatz bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Unsicherheit zurückführt. Laut dem jüngsten Gallup-Arbeitsplatzbericht geben 58 Prozent der Arbeitnehmer an, dass sie gestresster sind, und 48 Prozent sagen, dass sie sich mehr Sorgen machen.
Adrenalin reicht nicht mehr aus
Angesichts des auch in den USA anhaltenden Fachkräftemangels verlangen die Unternehmen von ihren Mitarbeitern, mehr Aufgaben zu übernehmen - in der Regel ohne höhere Vergütung. Die Bilanz der Gartner-Analystin: "In den ersten beiden Jahren der Pandemie liefen wir auf Adrenalin, und jetzt, mit all der zusätzlichen Arbeit, die wir übernommen haben, sehen wir, wie sich die Situation immer weiter zuspitzt. Das Adrenalin und der gute Wille reichen nicht mehr aus, um die Mitarbeiter voranzutreiben", so Walsh.
Der Produktivitätsrückgang vollzieht sich zudem in einer Zeit massiver Umwälzungen am Arbeitsmarkt. Viele Unternehmen versuchen händeringend, offene Stellen zu besetzen. Gleichzeitig haben viele Beschäftigte im Zuge der Great Resignation aus den unterschiedlichsten Gründen ihren Arbeitsplatz aufgegeben - im vergangenen Jahr jeden Monat mehr als vier Millionen allein in den Staaten. Die einen gingen, weil sie sich mit ihrer Karriere und ihrer Work-Life-Balance nicht mehr wohlfühlten. Gerade Wissensarbeiter wünschen sich flexible Arbeitsbedingungen und die Fortführung von Hybrid- und Telearbeit. Andere wechselten das Unternehmen einfach wegen der Aussicht auf bessere Bezahlung und Sozialleistungen.
Wohlfühlreport 2022: Home-Office macht drogensüchtig
Buber von ZipRecuiter sieht in der Great Resignation den Hauptgrund für den Produktivitätsrückgang bei den Wissensarbeitern und verweist auf die Abwanderung auch von altgedienten Mitarbeitern. Das habe Unternehmen dazu gezwungen, neues Personal einzuarbeiten. Darunter leide zwangsläufig die Produktivität. Die Rückkehrverpflichtungen hätten die Situation noch verschlimmert und die Massenabwanderung beschleunigt. Obwohl viele Unternehmen eine Kehrtwende einleiteten, sei ein Teil des Schadens bereits angerichtet worden.
Ungleichgewicht bei der Vergütung
Ein weiteres Problem sei die Ungleichbehandlung bei der Vergütung. Wenn neue Mitarbeiter eingestellt würden, erhielten sie heute oft ebenso gute oder sogar bessere Löhne und Sozialleistungen als langjährige Mitarbeiter. Letztere seien zunehmend frustriert, "der Zusammenhang von harter Arbeit und einem guten Gehalt ist nicht mehr zwangsläufig vorhanden", stellt die Arbeitsmarktexpertin fest.
Buber ist dennoch optimistisch und erwartet, dass sich die Produktivität wieder auf dem Niveau der ersten beiden Jahre der Pandemie einpendeln wird, sofern die Welle der Great Resignation abebbt und sich die Arbeitnehmer an die neue Normalität gewöhnen. "Produktivität ist eine schwer zu prognostizierende Größe. Es ist kaum vorherzusagen, was im nächsten Quartal passiert", sagte sie. "Aber in den nächsten Jahren, wenn die Kündigungsrate wieder auf ein normales Niveau gesunken ist und die neu eingestellten Beschäftigten sich eingewöhnt haben, werden wir sehen, dass die Produktivität wieder ansteigt." (ba)