Die Möglichkeit, künstliche Intelligenz (KI/AI) im Sprachbereich zu verwenden, existiert bereits seit mehr als einem Jahrzehnt. Kundenfeedback zu sortieren, um es in die entsprechenden Adressaten-Abteilungen weiterzuleiten oder E-Mails automatisch beantworten zu lassen - diese Methoden sind in großen Unternehmen schon stark verbreitet. In der breiten Masse jedoch hielt sich die Akzeptanz von Textverarbeitung mittels KI noch in Grenzen. Bis vor Kurzem: Seit ChatGPT für jeden kostenfrei verfügbar ist, ist KI in aller Munde.
Unumstritten hat dieses Sprachmodell großen Einfluss darauf, dass KI in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Für die Experten der COMPUTERWOCHE-Diskussionsrunde zum Thema "Applied AI" ist ChatGPT kein reiner Hype, sondern eine Revolution - zunächst werden die Softwareentwickler von ihr profitieren, später dann alle. Sobald die Endanwender mit fertigen Lösungen konfrontiert werden, die direkt nutzbar sind, wird KI vermutlich auch schon nicht mehr als separates Thema wahrgenommen werden, sondern als in Office-Anwendungen oder Geschäftsprozessen integrierte Funktion. Entsprechende Entwicklungen finden gerade statt - und zwar in einer Innovationsgeschwindigkeit, mit der weder KI-Experten, noch Unternehmen und Gesellschaft umzugehen wissen.
Von der Skizze zum Prozess
Der KI-Markt ist derzeit stark in Bewegung - immer wieder kommen neue Modelle mit kommerziellen Lizenzen auf den Markt. Zudem erwecken die unterschiedlichsten Einsatzszenarien den Eindruck, als entstünde jede Woche etwas Neues. Natürlich stößt die Möglichkeit, Kommunikation und Sprache zu automatisieren und aus den Daten Content produzieren zu lassen auch bei CIOs und Business-Entscheidenden auf großes Interesse. Um aber von einer einfachen Lösungsskizze hin zu einem automatisierten, lebenden Prozess zu gelangen, sind lange Wege zu gehen, auf denen man die Unternehmen an die Hand nehmen muss.
Es geht dabei nicht nur darum, bei all den verfügbaren Foundation-Modellen den Überblick zu behalten. Die Herausforderung: Ein allgemein eingesetztes KI-Sprachmodell ist nicht auf Applikations- oder Branchen-spezifische Funktionen beziehungsweise Kontext hin trainiert. Die KI muss also je nach Anwendungsfall erweitert oder die Anwendung mit ihrer Hilfe neu erstellt werden. Doch weil gerade im Sprachbereich nur sehr wenige ihre Lösungen selbst bauen können, benögiten sie dafür gut ausgebildete Experten, die auf großen Foundation-Modellen Geschäftsprozesse adaptieren können. Für den Legal-Markt zum Beispiel gibt es bereits die ersten Startups, welche die Modelle um die speziellen Branchenthemen verfeinern.
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AI Act ist nicht die einzige Herausforderung
Auch wenn das Angebot, Startmodelle zu verwenden, zunehmend einfacher wird und in einem halben Jahr jeder - vom Java-Entwickler bis zum Datenbankexperten - zumindest die einfachen APIs verwenden kann, wird eine Vertikalisierung vor allem wegen der gewaltigen zukünftigen Herausforderungen elementar bleiben. Eine davon ist der AI Act, der spätestens 2025 in Kraft treten soll. Viele KI-Projekte werden nochmals auf den Kopf gestellt werden müssen, wenn festgestellt wird, dass es zum Beispiel ein CE-Zertifikat braucht und/oder komplett neue Prozesse, um die Lösung überhaupt noch betreiben zu können. Auch viele Datenschutzfragen sind ungeklärt.
Trotzdem haben - auch dank AI Act - gerade deutsche Unternehmen aktuell eine große Chance, KI-Vorreiter zu werden. Entsprechende Lösungen gibt schon viele, die auch nach AI Act funktionieren würden und sämtliche Vorgaben hinsichtlich Privacy, Security und Compliance erfüllen könnten.
Unternehmen müssen sich entscheidende Fragen stellen, um den Überblick über ihre KI-Projekte zu behalten:
Was ist das Anwendungsszenario?
Welche Daten liegen zugrunde?
Ist der Use Case sehr spezifisch?
Lohnt sich ein Finetuning eines Foundation-Modells überhaupt?
Klar ist: Um verschiedene Use Cases abzudecken, reicht es nicht, nur auf einem Foundation-Modell aufzubauen. Und so wird auch die Frage nach der Governance immer komplexer, um die Anwendung transparent und Entscheidungen letztendlich auch begründbar zu machen.
- Andreas Schneider, IBM
„KI ist nur so gut wie die Daten, die sie füttert. Unternehmen benötigen daher eine AI- und Data-Plattform, um Modelle möglichst kontextspezifisch und kollaborativ zu trainieren, zu validieren und zu deployen. Gleichzeitig darf dabei nicht aus den Augen verloren werden, alle Beteiligten auch abzuholen. Dass Veränderungen, beispielsweise durch die Automation von Geschäftsprozessen, nicht immer auf Begeisterung stoßen, ist völlig menschlich. Soziale Aspekte und Ängste muss man deshalb genauso berücksichtigen wie Technologie und eine umfangreiche Governance von KI-Modellen.“ - Daniel Hummel, KI Reply
„Es reicht nicht aus, lediglich theoretisch über KI-Lösungen zu diskutieren und sie zu skizzieren. Stattdessen sollten wir diese Lösungen mithilfe von Mockups simulieren, um ihren Nutzen und ihre Machbarkeit besser zu verdeutlichen. Dank der neuesten Fortschritte in der KI können wir sie schnell in Proof-of-Concepts (PoCs) umwandeln. Dies eröffnet uns die Möglichkeit, sofort auf Veränderungen zu reagieren und den nächsten Schritt in Richtung Realisierung zu gehen. Für mich ist es von zentraler Bedeutung, die uns zur Verfügung stehenden Modelle bestmöglich zu nutzen. Damit können wir in Deutschland eigenständige Innovationen vorantreiben, anstatt die Lösungen anderer zu adaptieren.“ - Michael Koch, Lufthansa Industry Solutions
„Die Nutzung von KI bringt bereits heute viele Vorteile, wir müssen den Umgang damit aber noch erlernen. Die Vision: Wir sollten KI wie ein Flugzeug verwenden. Denn auf dem Weg in den Urlaub vertrauen wir der Technik und machen uns keine Gedanken darüber, wie zum Beispiel ein Triebwerk funktioniert. Der Weg ist sicherlich noch weit, aber mit den derzeit verfügbaren Sprachmodellen und KIs können wir schon heute einfach und verlässlich gewinnbringende Lösungen entwickeln, die aktuelle Sicherheits- und Datenschutzvorgaben berücksichtigen. Eine gute Lösung sollte verwendet werden, egal welche KI im Einsatz ist. Voraussetzung dafür ist, dass sie alle ethischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen im Sinne einer Trustworthy AI und des EU-AI-Acts einhält." - Christian Eckstein, MVTec Software
„Der Anteil von KI in Bildverarbeitungssystemen ist niedriger, als man vielleicht vermuten würde. Und das hat einen einfachen Grund: Die Modelle, die unsere Kunden selbst trainieren, müssen lokal ausgeführt werden. Die Idee, dass der Anlagenbetrieb von einer Internetverbindung oder einer Cloud abhängt, ist sehr absurd in der Industrie. Auch, dass Bilddaten von Fehlerteilen zum Beispiel nach aussen geschickt werden, ist für die meisten undenkbar. Weil die Modelle lokal ausgeführt werden, braucht es eine entsprechende Hardware. Eine GPU, die in der Fertigung gekühlt werden muss – auch das ist schwierig. Und schließlich ist KI für die meisten Anwendungen der Bildverarbeitung zu langsam. Die Inspektion von Folie zum Beispiel, die mit zig Metern pro Sekunde durch die Anlage läuft – da käme kein Modell hinterher.“ - Björn Ständer, Oracle
„Ein breites Einsatzgebiet für KI gibt es heute schon im Bereich Gesundheitswesen. Die Kombination aus supervised and unsupervised Leaning erschliesst neue Möglichkeiten im Bereich Diagnose und Behandlung. Dabei werden z.B. Messdaten von Smart Devices mit Modellen von Digital Twins kombiniert, um Erkenntnisse für eine Früherkennung oder neue Behandlungsmethoden zu gewinnen. Der Einsatz anonymisierter Bilderkennung unterstützt das Krankenhauspersonal beim Monitoring von Patienten und alarmiert Pflegekräfte über kritische Situationen – durch eine intelligente Automatisierung mit KI kann das Personal von Routinetätigkeiten entlastet werden – in Zeiten von Fachkräftemangel und steigendem Kostendruck dient der Einsatz von KI dem Wohl Patienten als auch der Kostenoptimierung des Providers.“ - Alexander Siebert, Retresco
„Mit ChatGPT haben wir zum ersten Mal eine White Collar Revolution. Vorher waren es die Kuka-Roboter, welche die Blue Collar Worker in den Fabriken bedroht haben. Nun sind plötzlich die Kreativprozesse betroffen, was Unternehmen vor große Herausforderungen stellt. Sowohl intern, weil die Marketing-Abteilungen um ihre Jobs fürchten, andererseits aber damit arbeiten müssen, um effizient zu bleiben. Aber auch von außen, weil plötzlich eine ganz andere Wettbewerbssituation gegeben ist. Mit KI-Sprachmodellen können kleine 1-Personen-Betriebe viel leichter Geschäftsmodelle aufbauen, welche sehr schnell herkömmliche Angebote bedrohen können.“ - Johannes Bohnet, Seerene
„Selbst vergleichsweise einfache Softwareprojekte entziehen sich durch ihre im wahrsten Sinne des Wortes übermenschliche Komplexität einem holistischen menschlichen Verständnis und damit der strategischen Steuerung durch menschliche Akteure. Seerene nutzt KI einerseits, um aus den Daten, die in den Software-Entwicklungsabteilungen bereits vorhanden sind, die Sichtbarkeit von Software-Produktionsprozessen bis hin zur Managementebene zu erreichen. Zum anderen setzen wir AI direkt in der Software-Entwicklung ein, um Vorhersagen treffen zu können, wo aus den Tätigkeiten heraus eine zukünftige Gefahr besteht, dass dort Fehlerquellen in den Code gelangen könnten.“
Menschen machen Fehler - KI auch
Bei allem Bedarf für technisches Know-how ist es ebenso wichtig, die KI-Projekte gemeinsam mit den einsetzenden Fachbereichen zu implementieren, um Nutzen und Grenzen der Technologie zu erkennen. Nicht zuletzt auch, damit die Erwartungshaltung der späteren Nutzer gleich von Anfang an eruiert werden kann. So sollten beispielsweise KI-gestützte Sprachmodelle gleich von Anfang an mit dem späteren Einsatzzweck entsprechenden, qualitativ hochwertigen Trainingsdaten gefüttert werden. Was qualitativ hochwertig ist, hängt häufig natürlich von einer subjektiven Beurteilung ab, was solch ein Projekt natürlich nicht einfacher macht.
Je mehr KI zum Einsatz kommt, desto mehr müssen sich alle Nutzerinnen und Nutzer gewisser Unwägbarkeiten respektive mathematischer Wahrscheinlichkeiten bewusst sein. Das, was technisch nicht lösbar ist, darf am Ende nämlich nicht auf den Menschen abgewälzt werden mit der Erwartung, dass er die einzige Wahrheit findet. Die Expertenrunde resümiert dazu: Wie sich die Akzeptanz falscher Ergebnisse von Sprachmodellen entwickeln wird, bleibt vor allem bei der Automatisierung von Prozessen in den Bereichen wie Verwaltung spannend, in denen unter anderem rechtskräftige Aussagen getroffen werden müssen.
Studie "Applied AI 2023": Sie können sich noch beteiligen! |
Zum Thema Applied AI führt die COMPUTERWOCHE derzeit eine Multi-Client-Studie unter IT-Verantwortlichen durch. Haben Sie Fragen zu dieser Studie oder wollen Sie Partner werden, helfen Ihnen Regina Hermann (rhermann@idg.de, Telefon: 089 36086 161) und Manuela Rädler (mraedler@idg.de, Telefon: 089 36086 271) gerne weiter. Informationen zur Studie finden Sie auch hier zum Download (PDF). |
Die Angst vor dem Innovationstreiber
Auch wenn es aktuell das dominierende Thema ist, steckt KI nicht nur in Sprachmodellen. Beispiele für die Möglichkeiten und Zuverlässigkeit Sensor-basierter KI-Systeme sind beispielsweise das autonome Fahren oder die industrielle Automatisierung in Produktion, Logistik und Infastruktur. Hier geht es um automatisierte Ressourcensteuerung in Fertigungsprozessen, die Überwachung des CO2-Footprints oder die Regelung des Lastverhaltens von Infrastrukturen bis hin zur Optimierung durch die Maschinen selbst.
Durch diese im Vergleich zu ChatGPT eher "stille Revolution" machen heute schon viele Unternehmen riesige Schritte nach vorne, gerade der deutsche Mittelstand ist bei seinen Anwendungsmöglichkeiten sehr innovativ. Allerdings liegen den meisten dieser Use Cases auch andere Anforderungen hinsichtlich Latenzzeit zugrunde, die mit einem Sprachmodell nicht realisierbar sind. Dennoch gibt es auch hier langsame Prozesse, denen KI-Sprachmodelle - auch wenn sie nun mehrere Sekunden brauchen - zu einen enormen Speed in der Produktion verhelfen könnten. Und dabei kommt es nicht auf die Auswahl eines speziellen Foundation-Modells an - die sich ohnehin früher oder später ähneln werden -, sondern auf die Experimentierfreude.
Natürlich sollte man nicht kopflos auf künstliche Intelligenz setzen, aber eben auch nicht erst loslegen, wenn ein Konzept von A bis Z zu Ende geschrieben ist. Dass andere Länder in diesem Punkt etwas wagemutiger oder weniger kritisch sind, ist mitunter auch kulturell bedingt. Aber: Künstliche Intelligenz sehen die meisten, die mit Kreativität und Wissen arbeiten, als Bedrohung an. Eine Bedrohung, die es bislang in dieser Form nicht gab. Umso wichtiger sind bei der Einführung dieser Technologien neben einer intensiven Sensibilisierung auch ein Changemanagement, indem verstärkt sozialorganisatorische Aspekte betrachtet werden, die sich technologisch nicht lösen lassen.
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