Standards verhindert eigene Ideen
Solche Konstellationen sind für die Akzeptanz von ITIL im Mittelstand nicht förderlich. Davon abgesehen, wiederspicht dieses Vorgehen der Lebenswelt in den fraglichen IT-Organisationen. Dort werden Sachverhalte sehr pragmatisch konzipiert, und zwar in Orientierung am konkreten Praxisbedarf. Ein umfangreiches Theoriewerk wie die IT Infrastructure Library löst schon deshalb keine große Freude aus, weil man fürchtet, durch den Fokus auf einen Standard die Möglichkeit eigenständiger Lösungsansätze zu verhindern.
Die mittelständische Informatikabteilung kann ihre Prozesse auf einem Dutzend Blätter Papier beschreiben und ebenso knapp deren Implementierung dokumentieren. Wenn sie sich an ITIL orientiert, muss sie sich zunächst durch mehrere Bücher arbeiten und eine Reihe von Schulungen durchlaufen. Zudem legt der Mittelstand erfahrungsgemäß nicht den allergrößten Wert auf eine fachliche Zertifizierung der Mitarbeiter und Organisationsbedingungen in der IT. Zumindest erachtet er den Nutzen nicht als so hoch, dass dies für ihn einen deutlich höheren Projekt- und Ressourcenaufwand rechtfertigen würde.
- Sechs Tipps zum Umgang mit Regelwerken
ITIL, CoBIT, Togaf & Co. haben durchaus ihren Sinn. Aber eine zu enge und unkritische Ausrichtung auf solche Standards wird den individuellen Anforderungen der Unternehmen oft nicht gerecht. - Tipp 1:
Lassen Sie sich nicht von einem Regelwerk vereinnahmen, sondern entwickeln Sie eine kritisch-konstruktive Distanz dazu. - Tipp 2:
Versuchen Sie nicht, individuelle Erfordernisse des Unternehmens in den Standard eines Methodenwerks zu pressen. - Tipp 3:
Definieren Sie ein unternehmensspezifisches Framework und übernehmen Sie nur die Teile aus den Regelwerken, die nützlich sind und verstanden werden. Beachten Sie dabei die Pareto-Regel (mit 20 Prozent Aufwand 80 Prozent der Dinge regeln), damit keine zu komplizierte Frameworks entstehen. - Tipp 4:
Entwerfen sie zum Unternehmen passende Prozesse, zum Beispiel mit der "Wertschöpfungsmaschine" von Andreas Suter oder der Business-Engineering-Methode von Hubert Österle. - Tipp 5:
Bestehen Sie auf klaren und präzisen Begriffsdefinitionen. Prüfen Sie Ihre Definition, indem sie drei Stakeholder/Experten aus Ihrem Unternehmen nach deren Interpretation fragen. Wenn jeder etwas anderes interpretiert, taugt die Begriffsdefinition nicht. - Tipp 6:
Greifen Sie bei Servicedefinitionen auf fundierte und konkrete Werke zum IT-Produkt-Management oder Service-Engineering zurück (beispielsweise von Harry Sneed, Tilo Böhmann oder Klaus-Peter Fähnrich).
Alternative notwendig
Eine inhaltliche und organisatorische Reduzierung von ITIL erweist sich in der Praxis als schwierig - was keineswegs überraschend ist. Schließlich lässt sich ein komplexes System im Regelfall nur sehr schwer vereinfachen, während einfache Systeme vergleichsweise problemlos erweiterbar sind und wachsen können. Insofern spricht vieles dafür, dem Mittelstand eine Alternative zu ITIL zur Verfügung zu stellen.
Dass sich alternativen Frameworks zu ITIL noch nicht im Markt durchgesetzt haben, ist vermutlich der Kürze der Zeit geschuldet. Die Epoche der Prozessorientierung im IT-Service-Management ist ja noch relativ jung. Doch wäre ein Angebot weiterer Regelwerke keineswegs untypisch, wie der Blick in andere Bereiche zeigt. Beispielsweise weist das Projekt-Management sehr verschiedene Methodenwerke auf, die alle ihre Berechtigung haben, weil sie jeweils eine unterschiedliche Akzentuierung des Themas vornehmen.
Aufwandsersparnis um den Faktor zehn
Die Berechtigung einer ITIL-Alternative leitet sich auch daraus ab, dass die Anforderungen in der IT des Mittelstands längst nicht so vielfältig sind wie bei Großunternehmen. Sie beschränken sich nach unseren Erfahrungen auf neun Kernthemen, denen sich die IT auch nur in einer geringeren Tiefe widmen muss. Diese sind:
-
der IT-Betrieb,
-
die Bearbeitung von Störungen mit Incident- und Problem-Management,
-
die Auftragsbearbeitung im Sinne des Change-Managements,
-
die systematische Abarbeitung von Projekten,
-
die Kontrolle der IT-Infrastruktur,
-
das Vertrags-Management,
-
die gesamte Sicherheitsthematik,
-
die Gestaltung der Planungs- und Steuerungsprozesse sowie
-
das Qualitäts-Management.
Wie Prozessimplementierungen in kleineren mittelständischen IT-Organisationen ergeben haben, entsteht bei einem Verzicht auf das ITIL-Regelwerk eine ganz erhebliche Aufwandsminderung. Abhängig vom Prozess mindert ein weniger komplexes Vorgehen die Kosten um bis zu 90 Prozent gegenüber klassischen ITIL-Implementierungen, weil sich nicht nur das Prozessdesign und die Einführung deutlich schneller gestalten lassen , sondern auch der Schulungs- und Dokumentationsbedarf erheblich geringer sind.
Grundsätzlich erscheint es möglich, einen klar strukturierten IT-Prozess innerhalb von vier Wochen zu implementieren, also in einem Projektrahmen, der weit unter dem von ITIL liegt. Gerade dies spricht eindeutig für die Notwendigkeit eines mittelstandsorientierten Methodenwerks für das IT-Service-Management.
ISO-Zertifizierung auch ohne ITIL
Interessant ist hierbei möglicherweise, dass ein Unternehmen seine IT-Organisation nach ISO 20000 zertifizieren kann, auch wenn es kein ITIL nutz. Denn das Qualitäts-Label der ISO verlangt keineswegs explizit die Orientierung an einem bestimmten Regelwerk. Im Vordergrund stehen dabei vielmehr die Prozessstrukturen und eine nachhaltig gesicherte Leistungsfähigkeit. Insofern ist auch der Zertifizierungsaspekt keine Hürde, die den Markt davon abhalten könnte, sich mit dem Gedanken einer ITIL-Alternative zu beschäftigen. (qua)