Modellversuche und erste Tests zeigen: Wer die Früchte ernten will, muss vorab eine Menge investieren.
Die Vision von Industrie 4.0 hat viele Gesichter. Auf zahlreichen Veranstaltungen überall in Deutschland werden sie in den schönsten Farben multimedial dargestellt:
Maschinen, die den Servicetechniker selbst bestellen und ihm mitteilen, welche Ersatzteile er mitbringen muss,
Anlagen, die Betriebsdaten austauschen, um potenzielle Störfälle frühzeitig erkennen und vermeiden zu können.
Fertigungsstraßen, die sich automatisch im Hinblick auf individuell wählbare Parameter optimieren (Laufzeit, Ausstoß, Qualität, Energieverbrauch).
Die Potenziale sind groß, weiß Volker Stich, Professor am FIR der RWTH Aachen. Doch er kennt auch die Realität in den Unternehmen: "Angesichts der hohen IT-Entwicklungsgeschwindigkeit im Endverbraucher-Bereich mag es unwahrscheinlich erscheinen, aber im produzierenden Gewerbe steckt die durchgängige Vernetzung von IT-Systemen zum automatisierten Datenaustausch noch in den Kinderschuhen." Anders ausgedrückt: In den meisten Firmen fehlt es schlichtweg an der Basisinfrastruktur für Industrie 4.0.
Der Analyst und Berater Andreas Zilch, Vorstand der Experton AG, sieht hier vor allem die IT-Verantwortlichen in der Pflicht: "Bislang ist das größte Hindernis für Industrie 4.0, dass die Unternehmen sich nur aufs Tagesgeschäft konzentrieren und die Innovation in den Prozessen vernachlässigen. Die Chancen, die Industrie 4.0 für deutsche Unternehmen am Weltmarkt eröffnet, sind riesig. Aber sie erfordern schnelles Handeln, vor allem von den IT-Organisationen, die für die digitale Vernetzung von Prozessen verantwortlich sind. Im Hinblick auf ihre eigenen Zukunftsaussichten müssen IT-Manager sich in der Digitalisierung von Logistik- und Produktionsprozessen stärker engagieren."
Ein bisschen Revolution
Die Gründe für die zögerliche Umsetzung von entsprechenden Initiativen in den Unternehmen sind unterschiedlich. Wolfgang Dorst beispielsweise, Bereichsleiter Industrie 4.0 im Bitkom und Mitglied im Lenkungskreis der Plattform Industrie 4.0, macht im Gespräch mit Anwendern immer wieder die Erfahrung: "Viele meinen, diese Entwicklung gehe an ihnen vorbei. Sie verkennen die Situation. Die Digitalisierung ist unumkehrbar, und die Entwicklung verläuft schnell. Da ist es besser, aktiv mitzugestalten. Ansonsten laufen die Firmen Gefahr, irgendwann eingeholt und von Dritten dominiert zu werden."
Ein weiteres Hindernis für die praktische Umsetzung von Industrie 4.0 ist die Komplexität der Materie, erläutert RWTH-Professor Stich: "Industrie 4.0 ist ja kein Schalter, den man bei ausreichendem Budget einfach umlegen kann. Vielmehr reden wir über eine Revolution, die in vielen kleinen, evolutionären Schritten der Veränderung und Verbesserung erfolgt. Jede dieser Veränderungen bedeutet für Unternehmen ein Risiko, das ohne ausreichende Erprobung unkalkulierbar wird. Dieses Risiko kalkulierbar zu machen, Unternehmen Hinweise auf geeignetes Vorgehen und mögliche Fallstricke zu geben, das ist das Ziel, das wir mit unseren Modellen und Demonstratoren im Sinne einer ,Smart Factory` verfolgen."
Die zu Demonstrationszwecken gebaute "Industrie-4.0-Referenzfabrik" an der RWTH Aachen fertigt zwei innovative Produkte unter einem Dach: Vorserien- und Prototypenteile des Elektrofahrzeugs Streetscooter, von dem bereits die ersten 30 Stück an den Kunden DHL ausgeliefert wurden, sowie die Vorserie eines Pedelec-unterstützten E-Karts. Beide Baureihen laufen parallel auf den Produktionsstraßen der Fabrik.
Daraus ergeben sich hohe Ansprüche an die Steuerung von Aufträgen, Maschinen, Material und Personal. So lässt sich das Funktionieren von automatisierten Steuerungsabläufen in Echtzeit, eine der wichtigsten Herausforderungen bei der Entwicklung der Industrie 4.0, unter ähnlichen Bedingungen wie in einem "echten" Unternehmen testen.
- Industrie 4.0 - wenn Daten und Sicherheit fehlen
Zunehmend komplexe Verbünde aus IT-Systemen und Maschinen kommen ohne Application-Management-Teams nicht aus. Diese müssen ihr Wissen ständig erweitern. - Fit-Gap-Analyse zum Know-how-Bedarf:
Welches Wissen ist wann und wo erforderlich? Was können wir bereits abdecken und was noch nicht? - Entwurf eines Curriculums und Aufbau eines Fortbildungsprogramms:
Inwieweit können die vorhandenen Mitarbeiter die bestehenden Lücken durch Fortbildung schließen? - Definition des Recruiting-Bedarfs und Roadmap für entsprechende Maßnahmen:
Für welche Themen müssen wir neue Mitarbeiter einstellen? In welchen Studiengängen finden wir sie, und wie sprechen wir sie an? - Etablierung von Kooperations- und Collaboration-Verfahren zwischen AM-Team und Fachbereichen:
Beispielsweise Instandhaltungsexperten, die sich mit den IT-Systemen vertraut machen: Wer aus den Fachbereichen unterstützt bei Bedarf auf welche Weise das zentrale Application-Management? - Aufbau von "agilen" AM-Teams in den einzelnen Fachbereichen - beispielsweise Instandhaltungsexperten, die sich mit den IT-Systemen vertraut machen:
Wer in den Fachbereichen kommt infrage? Welches Wissen sollte er sich aneignen
Test unter realen Bedingungen
RWTH-Mann Stich: "Die Produktion in der Demonstrationsfabrik ist absolut real. Wir verwenden Hardwarekomponenten und IT-Systeme, wie sie in der Industrie Einsatz finden. Natürlich können wir nur einen beispielhaften Prozess abbilden - und nicht die Produktionsstraßen aller Industrien imitieren. Aber unsere Ergebnisse lassen sich wesentlich einfacher und schneller auf die konkreten Produktionsprozesse eines Unternehmens übertragen, als wenn das Unternehmen sich alle Vorgehensweisen selbst erarbeiten müsste."
Als ein Beispiel für solche Ergebnisse nennt Stich die Vernetzung unterschiedlicher ERP-Systeme in verschiedenen Arbeitsbereichen der Fabrik. Konkret kommen Lösungen von Psipenta, Itelligence, Alpha Business Solutions und Asseco im Verbund zum Einsatz. "Damit liefern wir die Grundlage für Vernetzungsszenarien in realen Unternehmen. Die dabei oder auch bei der Optimierung innovativer Sensorik geleistete Arbeit wird den Aufwand in folgenden Projekten erheblich reduzieren." In diesen Projekten könne man dann auch komplett neue Geschäftsmodelle realisieren, etwa im Bereich Wartung und Instandhaltung intelligenter Produkte.
Damit profitieren die Unternehmen von modellhaften Versuchen, die in der unternehmerischen Praxis so nicht stattfinden könnten, wie Stich betont: "Unsere Forschungsaktivitäten sind gemeinsam mit den Partnern im Cluster Logistik am RWTH-Aachen-Campus so organisiert, dass wir eine experimentelle Produktionsumgebung betreiben können. Damit lassen sich Verfahren und Technologien ausprobieren, deren Einsatz ein echter Unternehmer als zu risikoreich bewerten könnte."
- Diese Branchen können profitieren
Der Bitkom und das Fraunhofer IAO haben das Wachstumspotenzial für die Branchen ITK, Maschinen- und Anlagenbau, Chemische Industrie, Kraftfahrzeugbau, Elektroindustrie und Landwirtschaft erhoben. - Technologiefelder
Dabei wurden die Aktivitäten in divesen Technologiefelder bewertet, die für eine vernetzte und intelligente Fertigung relevant sind. - Gesamtpotenzial
Insgesamt erwarten die Marktexperten ein jährliches Wachstum von 1,7 Prozent, das mit Waren und Diensten rund um Industrie 4.0 zu erzielen ist. - ITK-Industrie
Der ITK-Branche eröffnen sich Chancen durch neuen Produkte und Dienstleistungen, die eine einfache, flexible und echtzeitnahe Produktionsplanung und -steuerung ermöglichen. Neue Services basieren vielfach auf Big Data und Cloud Computing. - Maschinen- und Anlagenbau
Die Branche ist Anwender und Anbieter zugleich. Betriebs-, Zustands- und Umfelddaten können genutzt werden, um effizienter zu produzieren oder neue Geschäftsmodelle zu entwerfen. Zudem statten Anbieter andere Fertigungsunternehmen mit neue Komponenten und Systeme aus. - Elektroindustrie
Die Branche der elektrischen Ausrüster umfasst vor allem die Herstellung elektrischer und optischer Geräte. Ihre Lösungen können komplexe Produktionsprozesse fast in Echtzeit überwachen. Das schafft höhere Transparenz und senkt Lagerkosten. - Chemie
In der Chemie-Industrie geht es vor allem um die bessere Überwachung und höhere Flexibilität global verteilter Produktionsprozesse. - Kraftfahrzeugbau
Die Branche ist primär Anwender von Industrie 4.0, insbesondere in der Produktion und Logistik. Neue Technologien in den Fahrzeugen erhöhen die Verkehrssicherheit und erleichtern das Management von Ersatzteilen und die Wartung. - Landwirtschaft
Das kleinste betrachtete Segment ist die Landwirtschaft. Hier sind verbesserte Prozesse und neue Geschäftsmodelle möglich. Die Effekte werden vor allem durch die Vernetzung von Landmaschinen untereinander sowie den Einsatz mobiler Geräte gesehen: Sie vereinfachen eine flexible und echtzeitnahe Produktionsplanung und -steuerung.
Die Wirtschaft ist nicht außen vor
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wirtschaft in Demonstrationsfabriken wie in Aachen außen vor bliebe, sagt der Wissenschaftler: "Wir haben natürlich unsere Partner aus der Industrie, die uns in die Bearbeitung relevanter realer Fragestellungen einbinden und unsere Ergebnisse nutzen möchten. Sie bringen sich je nach Interessenlage unterschiedlich intensiv in eigenfinanzierten oder öffentlich geförderten Projekten ein." Die beteiligten Forschungseinrichtungen wie etwa Stichs Institut FIR beantragen die Forschungsaktivitäten, koordinieren, stellen Ergebnisse bereit und sorgen für die notwendige Infrastruktur. Industrieverbände wie der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), der Kundendienst-Verband Deutschland (KVD), die GS1 und das Deutsche Institut für Normung (DIN) beteiligen sich ebenfalls, um Mehrwerte für ihre Mitglieder zu generieren und den Transfer von Erkenntnissen zu beschleunigen.