Die Unschärfe-Relation der Logistik
Michael ten Hompel, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik (IML) thematisierte den bevorstehenden Umbruch durch die fortschreitende Digitalisierung ebenfalls in seinem Vortrag auf den SOA Days 2014 ebenfalls: "Zumindest in der Logistik werden wir von deterministischen zu stochastischen Systemen und einem entsprechenden Management kommen müssen." Als Gründe dafür nennt ten Hompel zum einen die Unmöglichkeit, in der Logistik unternehmensübergreifende Prozessketten zu standardisieren und zum anderen die schon von Helbig genannte zunehmende Zentrierung der Unternehmen auf die Kundenprozesse.
"Je genauer ich das Ergebnis einer Prozesskette in der Logistik vorhersagen will, desto unwahrscheinlicher wird, das es zu einem exakt geplanten Zeitpunkt eintritt. In einer Wirtschaftswelt, in der der Kunde im Mittelpunkt steht und er Services beziehungsweise Produkte zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt haben möchte, und nicht zu einem Termin, den der Anbieter vorgibt, kann nur noch mit Wahrscheinlichkeiten gerechnet werden, nicht mehr mit Gewissheiten", schilderte ten Hompel die Herausforderung. Weitere Argumente für den stochastischen Ansatz sieht der Logistiker in der ständig wachsenden Struktur- und Produktkomplexität, in der ungebrochenen Globalisierung, dem exponentiell wachsenden Vernetzungsgrad sowie der explosionsartigen Ausdehnung von Datenmengen und -komplexität. "Allein die Datenmenge wächst innerhalb von zehn Jahren um den Faktor 1000."
In Deutschland Software entwickeln wie Autos
Um zu Systemen zu kommen, die mit Wahrscheinlichkeiten umgehen können, erklärte ten Hompel Software, Dezentralisierung und Virtualisierung zu den wichtigsten Bausteinen der digitalen Business Transformation in der Logistik.
• Software ist für ihn der wichtigste Treiber von Innovation,
• Dezentralisierung, sprich das Internet der Dinge, mache Komplexität beherrschbar und sorge für Flexibilität, weil die Dinge anfangen, sich selbst zu organisieren und
• Virtualisierung - vulgo Cloud - bringe die nötige Standardisierung und Integration.
Der Logistik-Professor betonte: "Wir müssen in Deutschland Software entwickeln wie Autos." Software berge branchenübergreifendes, disruptives Innovationspotenzial wie das Beispiel von Amazon vor Augen führe. Dass die 230 Milliarden-Euro-Branche das "Unschärfe-Problem" vor allem mit Software zu lösen versuche, lässt sich auch an den geplanten Investitionen ablesen. Über 50 Prozent der Logistikunternehmen planen Software-Investitionen.
Industrie 4.0 und Internet der Dinge werden auch die Logistik-Branche auf den Kopf stellen. Das Maß an Flexibilität, Dezentralisierung und Selbstorganisation sowie Virtualisierung wächst mit der Komplexität der Systeme. Und die werde mit Phänomenen wie Losgröße 1, Individualisierung der Produktion, neuen Delivery-Methoden auf der letzten Meile und anderen Entwicklungen deutlich zunehmen. Das führt einerseits zu einer zunehmenden Virtualisierung der Prozesse und andererseits zu einer hochgradigen Dezentralisierung auf der unteren Ebene.
Virtualisierung und Dezentralisierung sind die Schlüsselelemente
Virtualisierung und Dezentralisierung sind die beiden Methoden, mit denen ten Hompel Komplexität managen will. Virtualisierung bringe eine einheitliche Systemumgebung und verringere so Komplexität. Mit Dezentralisierung lasse sich Komplexität durch Zerlegung in (teilweise selbstorganisierende, autonome) Teilschritte reduzieren. "Das bedeutet, dass wir es auf der unteren Ebene mit der Migration cyber-physischer Geräte und auf der übergeordneten Ebene mit der Transformation der Organisation, der Geschäftsmodelle und ganzer Branchen zu tun bekommen werden", sagte ten Hompel.
Ein von seinem Institut entwickelten intelligenten Behälter führte ten Hompel als ein Beispiel für ein einfaches cyber-physisches System an, das sich in übergeordnete Abläufe integrieren lässt. Ein kleiner Prozessor, ein einfaches Display, das zum Beispiel einen Barcode darstellen könne sowie eine Stromquelle reichten aus, um den Behälter ihn in die Lage zu versetzen, selbst mitzuteilen, was er enthält und ihn in ein ganz normales Materialfluss-System zu integrieren. Zusätzlich mit einer einfachen Kamera ausgestattet, könne er außerdem selbst erkennen, welche Bauteile er in welcher Anzahl transportiere. "Einen Behälter intelligent zu machen, kostet heute schon nicht mehr als 20 Dollar. Damit sind wir an der Schwelle zur Massentauglichkeit", erklärt er. Hier fange Autonomisierung an. Sie reiche aber inzwischen weiter, über Paletten, Container bis hin zu autonomen Fahr- und Fluggeräten.
Software entscheidet über Erfolg und Misserfolg
Allerdings seien die teilweise 20 Jahre alten Softwaresysteme nicht mehr in der Lage, sich auf die disruptiven Geschäftsmodelle einzustellen oder autonom und möglichst automatisch auf Veränderungen zu reagieren. "Wir müssen künftig Dynamik und Komplexität abbilden können", forderte der Professor. Die Technik, um solche Systeme selbst zu realisieren, sei da. Aber hiesige Unternehmen müssten sich wieder trauen, passende Software und Hardware zu entwickeln. "Software ist die entscheidende Komponente, ohne sie werden wir das Potenzial nicht heben können. Länder mit entsprechender Technik- und Softwareentwicklung werden die taktgebenden Instanzen sein. Wenn wir hier in Deutschland nicht aktive Technologie- und Softwareentwicklung betreiben, werden wir nicht mehr taktgebend sein. Länder ohne diese Entwicklungsanstrengungen werden fremdbestimmt sein, was wir ja schon zu großen Teilen sind", warnte ten Hompel.