"ERP-Systeme sind tot - es lebe die ERP-Plattform!" - so umschreibt Heinz-Paul Bonn, ehemals Geschäftsführer des ERP-Anbieters GUS und heute Berater sowie Ehrenmitglied des Bitkom, die aktuelle Situation in der Software-Liga des Enterprise Resource Planing. Wieder einmal werde die Architektur von ERP-Systemen von Grund auf umgebaut. Allerdings greife der Paradigmenwechsel diesmal tiefer, er sei sogar disruptiver, ist Bonn überzeugt. "Die Art und Weise, wie wir künftig Software verkaufen und Software nutzen, unterscheidet sich signifikant von der guten alten Zeit der standardisierten Anwendungsentwicklung", schreibt der langjährige Branchenkenner in seinem Vorwort zum Positionspapier "Digitale Plattformen und ERP" des Bitkom.
Die digitale Transformation, das Bezugsmodell Cloud sowie die immer lauter werdenden Forderungen nach mehr Flexibilität und Agilität im IT-Betrieb wirken sich auch auf die ERP-Landschaften aus. Längst sind die Software-Monolithen, die nach wie vor das IT-Fundament in vielen Unternehmen bilden, nicht mehr unantastbar.
Lange Zeit war das so. Vor einem knappen halben Jahrhundert verfolgten die ersten Softwarehäuser, darunter auch die 1972 gegründete SAP, die Idee, Standardlösungen zu entwickeln, um damit die grundlegenden Geschäftsprozesse in den Unternehmen zu unterstützen. Was mit der Buchhaltung und der Produktionsplanung begann, dehnte sich bald immer weiter aus. Hinzu kamen Bereiche wie der Einkauf, die Logistik und der Vertrieb - am Ende standen integrierte Komplettlösungen.
Integrierte Komplettlösung - Fluch und Segen
Diese ERP-Systeme erwiesen sich aus heutiger Perspektive betrachtet als Segen und Fluch zugleich. Ihr großer Vorteil war und ist die Integration - ein Aspekt, auf den viele Anwender auch heute nicht verzichten wollen. Alle Softwaremodule sind von Haus aus in einer Gesamtlösung miteinander verknüpft. Workflows, Prozesse und Daten lassen sich - theoretisch - leicht verknüpfen und müssen nicht erst mühevoll über verschiedene Systeme hinweg miteinander verzahnt werden.
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Den Komfort erkaufen sich die Anwenderunternehmen allerdings mit etlichen Nachteilen. Klassische ERP-Systeme sind monolithisch und starr. Wer sich einmal für eine bestimmte ERP-Lösung entschieden und diese tief mit seinem Geschäftsbetrieb verwoben hat, bleibt in aller Regel bei diesem System. Wechsel sind meist aufwendig, die Abhängigkeit vom jeweiligen Softwarehersteller damit hoch. Das bedeutet, dass die Anwender dem Entwicklungspfad ihres ERP-Lieferanten folgen müssen - ob es ihnen gefällt oder nicht.
Dazu kommt ein weiteres Damokles-Schwert, das über den Häuptern vieler ERP-Anwender schwebt: das Customizing. Viele Softwarehersteller geben ihren Kunden Werkzeuge an die Hand, mit deren Hilfe sich die Systeme weiter individualisieren lassen. Das haben die Anwender weidlich ausgenutzt. Zu verlockend war die Aussicht, die Software bis ins Detail an die eigenen Abläufe und Anforderungen anzupassen. Die Erkenntnis, dass dieses Customizing letztendlich kaum Vorteile für das Business bringt und man doch besser beim Standard geblieben wäre, reifte in vielen Unternehmen erst spät. Heute müssen die IT-Verantwortlichen nach Wegen suchen, wie sie mit ihrem Wildwuchs zurechtkommen und ihre Systeme fit für den digitalen Wandel machen.
Unser ERP soll moderner werden
Bemühungen, das ERP grundsätzlich zu modernisieren, gab es in der Vergangenheit einige. Schlagworte wie Future ERP oder ERP 4.0 geisterten in den vergangenen Jahren immer wieder durch die Branche. Mehrfach wurden Anläufe unternommen, die starren monolithischen Strukturen durch neue Architekturansätze aufzubrechen.
Um die Jahrtausendwende kam mit Enterprise Application Integration (EAI) ein Konzept auf, um Geschäftsfunktionen entlang der Wertschöpfungskette zu integrieren. Die Anwendungssysteme blieben unangetastet und konnten in ihren heterogenen Strukturen weiter bestehen. Für die Integration sollten Adapter sowie eine Integrationsschicht sorgen, auf der Regeln und Prozessbeschreibungen hinterlegt sind. Man sprach in diesem Zusammenhang auch von lose gekoppelten Systemen - Loosely Coupled Systems. Das Handling der Schnittstellen und des Bus-Systems blieb allerdings komplex.
Die Evolution der IT-Architekturen
Auf EAI folgte die Service-orientierte Architektur (SOA). Dabei sollten sich Geschäftsprozesse über verschiedene miteinander orchestrierte Softwareservices abbilden lassen. Das Ziel: Diese Softwareservices könnten Anwender in unterschiedlichen Kontexten wiederverwenden. Die Kommunikation dieser Dienste untereinander funktioniert über standardisierte Web-Services und Protokolle wie SOAP und REST. Verzeichnisdienste, welche Services wie nutzbar sind, sollten Anwendern dabei helfen den Durchblick zu behalten.
Richtig abgehoben hat das Konzept nicht. SOA-Architekturen haben die Komplexität eher noch erhöht. Der Implementierungsaufwand war in aller Regel enorm. Nachdem viele Milliarden in entsprechende Projekte geflossen waren, erlosch das Interesse mit der Finanzkrise im Jahr 2008 zusehends.
Paradigmenwechsel durch die Cloud
Mit dem immer stärkeren Aufkommen der Cloud in den zurückliegenden Jahren sowie dem damit verbundenen Plattformgedanken, scheint sich nun aber tatsächlich ein Paradigmenwechsel in Sachen ERP anzubahnen. Einer Untersuchung von Forrester Research zufolge werden Unternehmen weltweit in diesem Jahr 189,3 Milliarden Dollar für Applikationen zur Unterstützung ihrer Business-Prozesse ausgeben - 13 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Davon sollen 79,8 Milliarden Dollar in Software-as-a-Service-Lösungen (SaaS) fließen, ein Anteil von über 42 Prozent. Im Jahr 2012 betrug der SaaS-Anteil gerade einmal gut 18 Prozent.
Gleichzeitig wächst auf Seiten der Anwenderunternehmen der Bedarf, die eigenen ERP-Systeme auf Vordermann zu bringen. Auf der Prioritätenliste in den Betrieben steht die Modernisierung von Legacy-Anwendungen meist ganz weit oben. Wie intensiv sich die Anwenderunternehmen mit der Zukunft ihrer ERP-Systeme beschäftigen, zeigen die anhaltenden Diskussionen in den Reihen der SAP-Anwender. Im vergangenen September stand der Jahreskongress der Deutschsprachigen SAP Anwendergruppe (DSAG) unter dem Motto "Zwischen den Welten - ERP und digitale Plattformen". Dabei drehte sich alles um das passende ERP für die Digitalisierung. Stabil müsse es sein, aber gleichzeitig auch flexibel, so die Forderung der Anwender. Das ERP-System der Zukunft soll alle wesentlichen Geschäftsprozesse abdecken, sich gleichzeitig aber auch schnell und einfach updaten lassen. Zusätzlich müsse der ERP-Kern mit flexibel konfigurierbaren Lösungen ergänzt werden können. Nur so ließen sich End-to-End-Prozesse als elementarer Bestandteil digitaler Geschäftsmodelle über Unternehmensgrenzen hinweg realisieren. Aber: "Da sind wir heute noch nicht", machte vor wenigen Monaten der DSAG-Vorstandsvorsitzende Marco Lenck klar.
So werden sich die SAP-Anwender auch in diesem Jahr auf ihrem Jahreskongress im Oktober wieder vorrangig mit Architekturfragen beschäftigen. Das Motto in diesem Jahr: "Business ohne Grenzen! Die Architektur der Zukunft." In Zeiten permanenten technologischen Fortschritts sei es zu wenig, sich nur mit bekannten Themen wie Konsolidierung oder Optimierungsprojekten zu beschäftigen, heißt es. Vielmehr stünden richtungsweisende Überlegungen an, die man auf dem Weg zu neuen Geschäftsmodellen diskutieren müsse: Welche Plattformen existieren für die Umsetzung einer Digitalisierungsstrategie? Welches Cloud-Szenario ist für welchen unternehmerischen Ansatz geeignet? Und warum stehen die aktuellen ERP-Landschaften so massiv in Frage?
"Das heutige Dilemma besteht darin, dass einerseits im ERP-Kern so viel wie möglich integriert sein soll, dieser andererseits aber immer mehr mit Cloud-Komponenten erweitert werden muss", bringt es Lenck auf den Punkt. An dieser Stelle die richtige Balance zu finden, ist offensichtlich die große Herausforderung für die ERP-Anwender. Ein zentrales ERP sollte unter integrativen Gesichtspunkten weiterhin gesetzt bleiben, wünschen sich die User. Angesichts zunehmender Kollaboration mit Kunden und Lieferanten sowie wachsenden Internet-of-things-Szenarien wächst aber der Bedarf an Funktionalitäten, die nicht im ERP abgebildet werden können - und auch nicht sollen. Dazu zählen die DSAG-Vertreter beispielsweise die permanente Übermittlung von Betriebsdaten von beim Kunden installierten Maschinen für Wartungsservices oder für die Pay-per-Use-Abrechnung.