Kunden werden zu Wettbewerbern
Viele Ihrer großen Kunden wandeln sich zu Softwareanbietern und Plattformbetreibern. Brauchen die auf Dauer eine IBM im Lösungsgeschäft?
Hartmann: Manchmal stehen wir auch in einem koopetitiven Verhältnis zu unseren Kunden. Aber damit haben wir in der Plattformökonomie alle zu leben. In der Fertigungsindustrie etwa gibt es große Kunden, die eigene Plattformpläne verfolgen, aber trotzdem mit uns und unserer Technologie arbeiten. Das wird in Zukunft eher die Regel als die Ausnahme sein. Für uns ist dabei wichtig, dass wir uns von unserem Geschäftsmodell her nicht als Wettbewerber unserer Kunden aufstellen. Wir folgen drei Glaubensgrundsätzen: Wir sind ein B2B-Haus, wir kommerzialisieren niemals die Daten unserer Kunden, und wir machen unseren Kunden in ihrem Kerngeschäft keine Konkurrenz. Könnten wir theoretisch einen Online-Versicherer bauen? Oder eine Online-Bank? Vermutlich schon, aber wir tun das nicht.
Wenn man mit CIOs spricht, gewinnt man den Eindruck, dass IBM nicht mehr so eine zentrale Rolle spielt wie noch vor Jahren. Geht es um große Projekte, ist viel von Accenture und Deloitte die Rede, früher war immer die IBM im Spiel. Was ist passiert?
Hartmann: Der Eindruck ist nur teilweise richtig. Heute haben wir gerade in Deutschland ein stark wachsendes Dienstleistungsgeschäft, gerade wenn es um Digitalisierungsprojekte geht. Das war aber in den letzten sechs Jahren nicht immer der Fall. Wir haben deshalb eine Neuausrichtung unseres Servicegeschäfts durchgezogen und gewinnen seitdem Marktanteile zurück.
Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen: Wir sind ein wesentlicher Player, vielleicht sogar der größte, wenn es um digitale Agenturen geht. Wir haben zugekauft, uns aber auch organisch entwickelt. Das passt gut zusammen mit unseren Aktivitäten im Watson IoT Center. Wir haben unsere Cloud und Blockchain-Garagen, und wir treiben das Thema KI. In den Projekten setzen wir voll auf agile Entwicklungsmethoden. Branchenfokussierung, die Verstärkung des Dienstleistungsgeschäftes, und das im Konzert mit Plattformideen, machen uns für den Markt interessant.
Wenn man sich Ihre jüngsten Geschäftszahlen ansieht, stellt man fest, dass IBM ertragsseitig seit Jahren stark abhängig vom Server-Business und hier besonders von den Großrechnern ist.
Hartmann: Ja, im Moment freuen wir uns vor allem über steigende Marktanteile bei den Servern der p-Serie, ein gut laufendes Storage-Geschäft - und über unsere Mainframes brauchen wir gar nicht zu philosophieren. Sie werden jetzt seit 30 Jahren für tot erklärt…
…aber nicht von uns!
Hartmann: (lacht) Nein, gar nicht. Die Technologie ist in der neuesten Version Z14 mit voller Encryption direkt auf der Kiste ein großer Erfolg. Ich sehe eine Tendenz, dass wir das Thema gerade auch mit unserem LinuxOne weiterentwickeln können. Warum soll ich mir riesige Serverfarmen hinstellen, wenn ich in einer Linux-Mainframe-Umgebung alles vom Management her integrieren kann? Und das noch zu einem absolut konkurrenzfähigen Preis? Wir empfehlen unseren Kunden eine Konsolidierung ihrer Workloads auf Rechner der p-Serie wenn es um datenintensive Workloads geht und auf Z-Systemen für die großen transaktionalen Systeme. Seit 40 Jahren wird darüber gesprochen, dass es Alternativen gäbe. Tatsächlich laufen die großen Transaktionssysteme alle immer noch auf Großrechnern.
IBM investiert gleichzeitig viel in ganz neue Technologien, derzeit vor allem Quanten-Computing, Blockchain und Künstliche Intelligenz, auch wenn sich die geschäftlichen Erfolge hier erstmal in Grenzen halten werden. Warum so viel Aufwand für Technologien, deren kommerzieller Erfolg noch nicht gewiss ist?
Hartmann: Wenn es ein Unternehmen über mehr als ein Jahrhundert hinweg schafft, immer wieder mit Leading-Edge-Technologie am Markt zu sein, dann scheint es einen gewissen Riecher dafür zu haben, wo der Markt hingeht. Es war immer Teil unserer Strategie, mit einem hohen Forschungs- und Entwicklungsbudget Innovationen voranzutreiben.
Gehen Sie doch mal die Liste der 20 wichtigsten IT-Anbieter in den letzten Jahrzehnten durch. Viele sind verschwunden, einige neue sind dazu gekommen - und IBM hat sich immer im vorderen Feld gehalten. Wir sind nicht umsonst seit Jahren Patentweltmeister. Über 600 US-Patente sind im letzten Jahr allein von IBMern aus dem deutschsprachigen Raum gekommen.
Quanten-Computing wird ein Thema, aber es dauert
Nehmen wir mal Quanten-Computing als konkretes Beispiel. Wie viele Kunden haben Sie denn da heute?
Hartmann: Natürlich stellen wir denen heute keinen Quantencomputer in den Keller, das geht schon wegen der physikalischen Voraussetzungen nicht. Die können sich aus der Cloud bedienen, genauso wie Forschungs- und Entwicklungsbereiche aus der Chemischen Industrie. Wir bauen außerdem gerade hier in München einen Q-Hub in Zusammenarbeit mit der Universität der Bundeswehr auf.
Beim Quanten-Computing sind wir noch in einem sehr frühen Stadium. Aber wir sind einer der wenigen Hersteller, die sich dem Thema wissenschaftlich und wirtschaftlich nähern. Wir haben gerade erst auf der CES in Las Vegas IBM Q System One vorgestellt - den ersten kommerziell nutzbaren Quantencomputer. Außerdem haben wir mit dem IBM Q Network eine sehr erfolgreiche Plattform, über die sich Unternehmen aus vielen Branchen und Universitäten vernetzen und unsere Quantencomputer nutzen können, um zukünftige Anwendungsfelder zu identifizieren.
Jeder, der sich für das Thema interessiert, kann sich aber jetzt schon über das IBM Q Experience an einen unserer Q-Bit-Rechner hängen, ohne einen Cent zu bezahlen und Experimente starten. Das Thema ist aufwändig und komplex - nicht nur bei der Hardware, sondern auch bei der Softwareentwicklung und vor allem der Ausbildung von Mitarbeitern.
IBM positioniert sich auch im Bereich der Blockchain-Technologie. Erste Anwender haben sich bereits eine blutige Nase mit dem Thema geholt. Wie sehen Sie die Chancen?
Hartmann: Man kennt das Bild: Neue Technologien werden am Anfang stark gehypt, dann kommt viel Ausprobieren und Lernen und schließlich dann Schritt für Schritt die kommerzielle Nutzung. Wir haben uns klar positioniert: Crypto-Währungen sind definitiv nicht unser Anwendungsfeld, wohl aber kommerzielle Welten, in denen eine vertrauenswürdige Infrastruktur gebraucht wird. Die etwa 50 bis 60 Industry Networks, in denen wir in unterschiedlichsten Branchen unterwegs sind, haben alle einen unterschiedlichen Entwicklungsstand. Mit "Food Trust" haben wir gerade eine Blockchain-Lösung auf den Markt gebracht, die der Nachverfolgung von Nahrungsmittel-Lieferketten dient. Hier sind wir über das Experimentalstadium und über den ersten Proof of Concept hinaus.
Steckt hier das branchenweit bekannte Walmart-Projekt dahinter?
Hartmann: Ja. Mit Walmart arbeiten wir an dieser Lösung seit einigen Jahren, die für die ganze Lebensmittelbranche interessant ist. An anderer Stelle arbeiten wir zum Beispiel mit der Reederei Maersk bei der Container-Verfolgung zusammen. "TradeLens" heißt das Projekt. Die Distributed-Ledger-Technologie bietet uns die Möglichkeit, Transparenz in ganze Lieferketten zu bringen. Das kann Versicherungs- und Finanztransaktionen genauso betreffen wir Produktion und Handel, also die physische Seite. Eine übergreifende Governance über die Netzwerke verschiedenste internationaler Marktteilnehmer herzustellen, erfordert aber viel Arbeit und Feinabstimmung. Letztendlich müssen dafür auch gemeinsame Geschäftsmodelle definiert werden.
Bei der Technologie wird derzeit viel ausprobiert, die Spreu wird sich vom Weizen trennen. Wir wollen unsere Entwicklungsarbeit im Kontext einer offenen Architektur einbringen, dabei ist Hyperledger Fabric erste Wahl. Die Open-Source-Initiative ist zur Zeit der umfassendste Verbund von verschiedenen Unternehmen, die sich hier engagieren. Wir bringen unser Tooling, unsere Softwareentwicklung und unsere Servicemannschaft ein. So sorgen wir für die nötige Robustheit. Wir haben auch kein Problem damit, die Kunden zu warnen und ihnen zu sagen: 'Hier fahrt Ihr mit einer ordentlichen Datenbanktechnologie besser als mit einem Blockchain-Projekt.'
Wie bekommen Sie den Spagat organisatorisch hin: Einerseits wollen Sie forschen und sich als innovativer Technologieanbieter positionieren, andererseits gehen Sie an vertikale Märkte mit teils individuellen Lösungen heran?
Hartmann: Wir haben im schweizerischen Rüschlikon und in Böblingen zwei Forschungs- beziehungsweise Entwicklungslabore, die bei der Entwicklung von Technologien innerhalb unseres globalen F&E-Netzwerks vorne mit dabei sind. Wer für IBM arbeitet, kann sich also grundlegendes Know-how aus diesen und anderen Laboren holen. Die Forscher bilden zum Beispiel zusammen mit ausgewählten Software- und Dienstleistungsexperten die Kernteams für eine neue Technologie wie Blockchain.
Wir bilden das dann in einer sogenannten Blockchain-Garage ab, das heißt, wir holen Kunden in einer sehr frühen Phase herein, um mit ihnen auf der Basis von agilen Methoden und Design Thinking schnell einen Proof of Concept zu definieren und so die ersten Schritte zu einer Lösung zu gehen. Wenn das ganze nun die Dimensionen eines größeren Projekts bekommt, bildet unsere Global-Service-Unit Berater aus, deren branchenspezifischer Background wichtig ist, um das Ganze auszubauen. Wir nutzen also unsere technologischen Ressourcen branchenübergreifend und auf der Lösungsseite branchenspezifisch. Wer Handelskredite gut versteht, den kann ich morgen nicht zum Automotive-Kunden schicken. Wir bilden das über eine Matrixorganisation ab.