Nachdem Präsident Wladimir Putin am 24. Februar 2022 seinen Krieg in der Ukraine begann, hatten sich mehr als 1.000 große Unternehmen verpflichtet, Russland zu verlassen oder zumindest ihre Präsenz dort drastisch zu reduzieren. Die gute Nachricht, so ein Forschungsteam der Yale University: Die meisten davon haben sich inzwischen, 16 Monate später, an ihr Versprechen gehalten. Diese beispiellose Abwanderung von Unternehmen sei ein schwerer finanzieller und symbolischer Schlag für Moskau und die russische Wirtschaft gewesen, erklärte Yale-Professor Jeff Sonnenfeld gegenüber CNN.
Lesetipp: Diese IT-Firmen zeigen Russland die Rote Karte
Während einige Konzerne wie Cisco bei ihrem Rückzug dreistellige Millionenumsätze abschrieben und ihr Engagement in Russland teilweise sogar noch stärker als im Rahmen von Sanktionen gefordert zurückfuhren, brachen andere, teils sehr bekannte Unternehmen, ihr Versprechen und betreiben weiterhin Business as usual, beziehungsweise spielen auf Zeit.
Auf der frisch aktualisierten "List of Shame" von Yale Research finden sich dabei neben bekannten Consumer-Marken wie Heineken, Unilever, Philip Morris International und dem Oreo-Hersteller Mondelez auch einige bekannte Unternehmen aus der IT- und Communications-Branche.
Since the invasion of ????, we've engaged with 125 companies to call for a responsible exit from Russia.
— B4Ukraine (@B4Ukraine) July 27, 2023
Our analysis shows: the excuses used by companies to stay are unwarranted, unsubstantiated, and, in certain cases, cynical.
Will they ever move from compliance to conscience? pic.twitter.com/ufr92HiKHX
Business as usual - trotz blutigem Krieg
Zu den Unternehmen, die offenbar gar nicht auf den Krieg reagiert haben, zählen die Yale-Forscher unter anderem Anydesk, einen deutschen Anbieter von Fernwartungssoftware. Dieser bietet, im Gegensatz zum Konkurrenten Teamviewer, weiterhin seine Lösung in Russland an, wie die Webseite https://anydesk.com/ru/zakazat belegt.
Eingegraben (Digging in) hat sich nach den Recherchen der Forscher auch die BT Group. So berichtete The Telegraph bereits im März vergangenen Jahres, der britische TK-Riese habe geprüft, ob er die Beziehungen zum russischen Carrier Rostelecom als Teil der Gegenreaktion auf Wladimir Putins Einmarsch abbrechen könne. BT habe jedoch von einer solchen Maßnahme Abstand genommen, da dies bedeuten würde, dass die Menschen in Großbritannien nicht mehr nach Russland telefonieren könnten.
Immerhin, so heißt es im Bericht weiter, habe die IT-Services-Tochter BT Global ihre Aktivitäten in Putins Reich zurückgefahren und beschäftige dort nur noch 17 Mitarbeiter. Der wesentliche Grund dafür dürften jedoch die schwindende Präsenz von Kunden wie Marks & Spencer, Ikea oder Volkswagen im Zuge von Boykott-Maßnahmen gewesen sein.
Ein weiteres bekanntes IT-Unternehmen auf der Liste ist Check Point Software. Das israelische Unternehmen verkauft offenbar weiterhin Cybersecurity-Produkte in Russland und hat noch eine Niederlassung in Moskau, wie auf der Firmen-Website nachzulesen ist. Ein offizielles Statement zu den Aktivitäten in Russland gibt es nicht.
Auch Cloudflare scheint die Sachlage etwas differenziert zu sehen und verkauft laut Yale-Liste weiterhin in Russland. Verständlicherweise ist die Erbringung von Dienstleistungen in Russland seit der Invasion sehr problematisch, schrieb der Cybersecurity-Anbieter bereits im März 2022. Man habe Maßnahmen ergriffen, um die verhängten Sanktionen umzusetzen. Da Cloudflare jedoch im Grunde genommen ein offeneres, privateres und sichereres Internet biete, wäre es ein Fehler, die Dienste von Cloudflare in Russland komplett einzustellen. Russland brauche eher mehr Internet-Zugang, nicht weniger.
Weiterhin Geschäfte - wenn man Berichten glauben mag, sogar äußerst lukrative - machen auch die chinesischen Anbieter Honor, Oppo, Vivo und ZTE in Russland. So erzielten chinesische Smartphone-Hersteller nach dem Rückzug von Apple und Samsung auf dem russischen Markt einen Marktanteil von 70 Prozent in 2022 (nach Stückzahlen). Dass es auch anders geht, zeigen Firmen wie Huawei, das sich - selbst von US-Sanktionen betroffen - Berichten zufolge heimlich bereits im März vergangenen Jahres aus Russland zurückzog und seinen Lieferverpflichtungen nicht mehr nachkam.
Abwarten und Geld verdienen
Auch die Liste der Unternehmen, die bei ihren angekündigten Boykott-Maßnahmen auf Zeit spielen, ist lang und prominent bestückt. So kündigte etwa die Online-Mitfahrzentrale BlaBlaCar an, man habe infolge des Kriegs gegen die Ukraine die Investitionen in Russland gestoppt. Gleichzeitig unterhält das französische Unternehmen aber weiterhin seine Plattformen in Putins Reich und will sich den Forschern zufolge von der russischen Online-Bus-Ticket-Plattform Busfor nicht trennen.
Eine andere Strategie verfolgt auch der indische IT-Dienstleister Infosys - und bringt damit indirekt sogar den britischen Premierminister Rishi Sunak in Erklärungsnöte. Die von Sunaks Schwiegervater mitgegründete Company hatte zwar wie im März 2022 angekündigt Russland verlassen. Presseberichten zufolge kappte Infosys dabei aber nicht alle Kundenbeziehungen, sondern hat zwei Moskauer Subunternehmer unter Vertrag, die die IT-Services für die Inder übernehmen.
Als etwas halbherzig könnte man auch die Position von Vimeo bezeichnen: Der YouTube-Konkurrent hatte im März 2022 bekanntgegeben, dass er keine neuen Kunden aus Russland mehr aufnehmen werde. Bestehende Nutzer, die sich an die Community-Richtlinien halten und nicht gegen sie verstoßen haben, und die - wie russische Staatsmedien - keinen internationalen Sanktionen unterliegen, erhielten jedoch weiterhin Zugang.
"Sie verhalten sich wie Kriegsgewinnler"
Auch wenn die Unternehmen nicht gegen Gesetze verstoßen, ist ihr Verhalten aus Sicht des Yale-Forschers Sonnenfeld beschämend und unethisch. "Sie verhalten sich wie Kriegsgewinnler", schimpft Sonnenfeld im CNN-Interview. Die Konzerne würden durch ihren Verbleib in Russland gegen einen moralischen Kodex verstoßen und gleichzeitig "ihre eigenen Marken selbst verbrennen".
Als Grundlage für die Informationen in der Yale- Datenbank nennt das Forschungsteam öffentliche Quellen wie behördlichen Unterlagen, Steuerunterlagen, Unternehmenserklärungen, Berichte von Finanzanalysten, Bloomberg, FactSet, MSCI, S&P Capital IQ, Thomson Reuters und Wirtschaftsmedien aus 166 Ländern. Darüber hinaus würden aber auch nicht-öffentliche Quellen genutzt, darunter ein globales Wiki-ähnliches Netzwerk von mehr als 150 Unternehmensinsidern, Whistleblowern und Kontakten von Führungskräften.