Kritische Analystenstimmen

Wird Broadcom die VMware-Kunden melken?

02.06.2022
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
Mit der Ankündigung VMware zu übernehmen, hat der Halbleiterkonzern Broadcom keinen Jubel ausgelöst. Analysten fürchten Preissteigerungen, Entlassungen und weniger Innovationen.
Hat mit den Übernahmen von CA Technologies und Symantec die Richtung vorgegeben: Broadcom-CEO Hock Tan will auch mit VMware vor allem Geld verdienen.
Hat mit den Übernahmen von CA Technologies und Symantec die Richtung vorgegeben: Broadcom-CEO Hock Tan will auch mit VMware vor allem Geld verdienen.
Foto: g0d4ather - shutterstock.com, Broadcom

Die Ankündigung des Halbleiterherstellers Broadcom, mit VMware einen der führenden Anbieter von Infrastruktursoftware für 61 Milliarden Dollar in bar und in Aktien zu kaufen, hat Unruhe in viele Anwenderunternehmen gebracht. Die Broadcom Software Group, zu der auch die Zukäufe CA Technologies und Symantec gehören, soll zukünftig unter dem Namen VMware firmieren.

Broadcom plane, das VMware-Angebot sehr schnell auf ein Subscription-Lizenzmodell umzustellen, schreibt The Register. So hoffe das Unternehmen, den operativen Gewinnbeitrag durch VMware innerhalb weniger Jahre signifikant zu erhöhen. Tom Krause, President der Broadcom Software Group, betonte allerdings auch, man werde massiv in das Produktportfolio von VMware investieren und sei froh, mit dem Softwarehaus auch eine erstklassige Vertriebsmannschaft und ein hervorragendes Partnernetzwerk zu bekommen.

Personalabbau scheint unausweichlich

Viel skeptischer sehen neutrale Marktbeobachter den Deal. Gegenüber CRN Australien sagte Gartner-Analyst Michael Warrilow, dass Kunden und Geschäftspartner nach der Übernahme kein Business as usual erwarten dürften. "Broadcom will nicht innovative Software entwickeln, sondern Softwarefirmen zukaufen, die das Unternehmen für unterbewertet hält. Dann erhöhen sie den Wert, indem sie das Backend konsolidieren."

Gemeint sind Kostensenkung und Personalabbau. Mit rund 37.000 Mitarbeitern beschäftigt VMware fast doppelt so viele Menschen wie Broadcom selbst. Hier die Kosten zu senken, sei das erste, was das Unternehmen tun werde, so Warrilow. Außerdem werde Broadcom schnell die Softwarepreise erhöhen, genauso wie vorher bei CA Technologies und Symantec. Fraglich sei, wie viel Geld das Unternehmen noch für Forschung und Entwicklung und für den Channel ausgeben wolle. Produkte wie vSphere/ESXi, VSAN und NSX seien wohl gesetzt und würden weiterentwickelt. Bei anderen Produkten sei das nicht so sicher.

Das gleich Muster wie bei CA und Symantec?

Besonders gründlich haben sich die Analysten von Forrester mit der Übernahme und ihren Auswirkungen in einem Blogbeitrag beschäftigt. Auch aus ihrer Sicht ist dieser Deal keine gute Nachricht für VMware-Kunden. Sorgen wegen möglicher Preiserhöhungen, nachlassendem Support und gebremster Innovationskraft seien gerechtfertigt. Zudem falle die Übernahme in eine Zeit, in der die Kunden nach dem Wechsel des beliebten Ex-CEO Pat Gelsinger zu Intel ohnehin schon irritiert genug seien.

Wie Gartner fürchtet auch Forrester, dass Broadcom nach dem gleichen Muster verfahren könnte wie bei den Zukäufen CA Technologies und Symantec. Deren Kunden sahen sich schon bald nach der Übernahme mit Preiserhöhungen, schlechterem Support und stockenden Produktinnovationen konfrontiert. Bei beiden Firmen verfolgt Broadcom die Strategie, sich nur noch auf Großkunden zu konzentrieren. Symantec hat sich mittlerweile auf seine 2000 größten Kunden ausgerichtet - was bei einem Kundenstamm von rund 100.000 keine gute Nachricht für die anderen 98.000 ist.

Sowohl Krause als auch Broadcom-CEO Hock Tan machten allerdings schon in der Pressekonferenz zur Übernahmeankündigung deutlich, dass sie im Falle von VMware anders vorgehen und das Potenzial der mehr als 500.000 Kunden voll ausnutzen wollten. VMware bediene einen Wachstumsmarkt und hab ein intaktes Channel-Business. Der Umstieg von klassischen Lizenzen auf ein Abomodell werde kurzfristig die Einnahmen schmälern, damit könne Broadcom leben. VMware sei eine Investition in ein Portfolio von weit verbreiteten Qualitätsprodukten. Innovationen sowie Forschung und Entwicklung spielten weiter die entscheidende Rolle für den künftigen Erfolg.

Die Forrester-Analysten sind hier allerdings skeptisch. Es sei fraglich, ob Broadcom willens und in der Lage sei, das umfangreiche Portfolio an Unternehmenssoftware weiterzuentwickeln und an modernen Lösungen zu arbeiten, die vom Mainframe bis zum Edge reichen. Es bestehe immer noch die Möglichkeit, dass sich das Unternehmen am Ende für den einfacheren Weg entscheide, die Kunden mit hohen Lizenzgebühren auszupressen.

Das Halbleitergeschäft ist zu unberechenbar geworden

Die Frage, warum Broadcom sich als Halbleiterkonzern überhaupt für den Einstieg in das Geschäft mit Enterprise-Software und schließlich für die Übernahme von VMware entschieden hat, beantwortet Forrester mit den Unsicherheiten und Schwankungen im Kerngeschäft mit Halbleitern. Dieser Markt sei von der Pandemie hart getroffen worden, Materialengpässe und Lieferkettenprobleme seien an der Tagesordnung. Zudem stoße der Halbleitersektor in Sachen Innovation an physikalische Grenzen, die Leistungsfähigkeit der diversen Komponenten sei nicht mehr beliebig zu steigern.

Broadcom wolle daher sein Angebotsportfolio diversifizieren, um in den Technologiemärkten relevant zu bleiben. Immerhin gehöre VMware zu den wichtigsten Akteuren im Markt für Enterprise-Software und gelte als "Marktstandard für Servervirtualisierungs-Software". Das Unternehmen sei vor allem mit Managementprodukten wie vRealize Management Suite und CloudHealth erfolgreich. Diese Produkte würden stark nachgefragt und überträfen die Zuwachszahlen der Konkurrenz bei weitem. Optionen böten auch die erfolgreichen, auf das Enduser-Computing gemünzten Angebote Horizon und Workspace ONE.

Forrester weist darauf hin, dass VMware immer noch der wichtigste Lieferant von Virtualisierungssoftware für Unternehmen sei. Dennoch sei nicht zu übersehen, dass das Unternehmen schleichend an Bedeutung verliere. Container-Technologien, die Public Cloud und eine wachsende Anzahl an Open-Source-Lösungen machten dem Unternehmen zu schaffen. Dennoch werde es wohl lange dauern, bis die ESX/ESXi-Welt des Konzerns spürbaren Schaden nehme. In den IT-Infrastrukturen der meisten Unternehmens seien diese Lösungen fest verankert.

Um zu wachsen und dem Abwärtstrend zu entgehen, habe VMware einen ausführlichen Plan erarbeitet, der das Unternehmen in neueren Technologiemärkten nach vorne bringen solle, so die Analysten. Die Erfolge fielen allerdings unterschiedlich aus. Forrester erinnert an die Bemühungen, mit vCloud Air im Segment der Public-Cloud-Angebote Fuß zu fassen, ehe dann der Schwenk in Richtung einer VMware-Cloud auf der Basis der Hyperscaler-Angebote von Amazon und Microsoft vollzogen wurde.

VSAN und NSX werten das Portfolio auf

Gut habe sich dagegen die Storage-Virtualisierungssoftware vSAN entwickelt, die mit Nutanix nur einen bedeutenden Wettbewerber im Markt habe. Auch im Bereich Netzwerkvirtualisierung und -sicherheit habe VMware mit NSX ein gutes Produkt, dass sich auf dem Markt behauptet habe, ohne sich allerdings als De-facto-Standard etabliert zu haben oder gar als Marktführer durchsetzen zu können. Die Forrester-Experten können sich vorstellen, dass die IBM-Tochter Red Hat mit ihrer Ansible Automation Platform die Vormachtstellung von VMware bei der Automatisierung von Unternehmens-IT-Infrastrukturen angreifen könnte. Beide hätten ihre eigenen Stärken.

Letztendlich habe sich VMware nur in wenigen Bereichen deutlich von seinen Mitbewerbern absetzen können: Das gelte für die Cloud-Management-Produkte vRealize und CloudHealth sowie für die Horizon-Software für Desktop- und Anwendungsvirtualisierung und die Arbeitsplatzlösung Workspace ONE, mit der VMware den Markt für Unified Endpoint Management bedient.

Die Marktauguren beobachten, dass VMware immer mehr Konkurrenz durch Open-Source-Lösungen bekommt. Auf Dauer müsse man den vSphere-/vCenter-Kunden besser erklären, wie sie mithilfe des Tanzu-Portfolios im Zuge einer umfassenderen IT-Modernisierung auf Cloud-Native-Technologien umsteigen können. Die Tanzu Application Platform (TAP) begnüge sich letztendlich damit, die Erfahrung und Produktivität von Entwicklern in einer Kubernetes-Umgebung zu verbessern. Das sei ein nützliches Angebot, reiche aber nicht aus, um eine vollständige Modernisierungsstrategie zu unterstützen.

Für seine Enduser-Computing-Roadmap müsse VMware über seine Virtual-Desktop-Infrastruktur (VDI) und das Endpunkt-Management hinausgehen. Entweder man verwandele sich in ein Unternehmen mit einem vollwertigen Experience-Management-Angebot oder positioniere sich mit entsprechenden Investitionen in IT-Sicherheit als Anbieter von sicheren Lösungen für die hybride Arbeitswelt, zumal hier der Grundstein mit der Anywhere-Workspace-Lösung schon gelegt sei.

Was sind die Auswirkungen auf den Wettbewerb?

Sollte die Broadcom-Übernahme bei VMware Sand ins Getriebe bringen, dürften Anbieter wie Red Hat und die Cloud Hyperscaler am meisten profitieren. Kunden, die VMware verlassen wollen, könnten zu Red Hats Kernel-basierter Virtual Machine als alternativem Hypervisor migrieren - mit dem Vorteil, eine Open-Source-Lösung zu nutzen. Und obwohl sich VMware TAP (ehemals Pivotal) früh als Standard für eine Multicloud-Container-Plattform etabliert hat, dürfte Red Hats OpenShift-Cloud-Plattform funktionell und auch in Bezug auf den Marktanteil vorbeigezogen sein, zumal VMware in Sachen Kundenzufriedenheit zurückgefallen ist.

Forrester kritisiert, dass die Kunden sich in der Vielfalt der VMware-Lösungen oft nicht mehr zurechtfänden. Einige Produkte unterstützten die alte VMware-Welt, andere konzentrierten sich auf Cloud-Native-Standards. Es habe lange gedauert, ehe der Softwarekonzern damit begonnen habe, etwas mehr Ordnung in sein Angebot zu bringen. Die Übernahme durch Broadcom könne das Vertrauen der Kunden nur wieder schwächen und das Interesse an anderen großen Multi-Cloud-Container-Angeboten wie Red Hat mit OpenShift, Anthos von Google oder SUSE Rancher steigern. Zudem könnten Cloud-Anbieter wie AWS, Microsoft Azure und Google Cloud Platform davon profitieren, dass Kunden, die ihre Cloud-Migrationspläne beschleunigen wollen oder sich für einen Cloud-nativen Ansatz entscheiden, VMware den Rücken kehren.

Wichtig sei auch die Frage nach den Auswirkungen der Übernahme auf bestehende strategische Partnerschaften. VMware-Hosting-Partner wie IBM, Lumen Technologies, Rackspace oder OVHcloud könnten Nachteile spüren, wenn Broadcom Änderungen an bestehenden Preismodellen, Produktentwicklungsplänen oder Kooperationsvereinbarungen mit Managed Service Providern (MSPs) und auch mit großen Kunden vornehme.

Im Enduser-Geschäft dürften starke Konkurrenten wie Microsoft zusätzlichen Boden gutmachen und Kunden von VMwares VDI- und Endpoint-Management-Produktlinien (Horizon und Workspace ONE) gewinnen. Forrester stellt fest, dass bei VMware das Enduser Computing zuletzt hinter die Infrastrukturlösungen zurückgefallen sei und die Gefahr bestehe, dass eine mögliche Integration der vielen Softwareangebote von Broadcom den Wert dieser Angebote weiter trüben könnte. Davon könne Microsoft profitieren und seine konkurrierenden Angebote Azure Virtual Desktop und Microsoft Endpoint Manager so positionieren, dass diese herüberkämen, als seien sie einfacher bereitzustellen, zu verwalten und zu nutzen.

Wie sieht die Zukunft in einer Broadcom/VMware-Welt aus?

Wie jede Übernahme biete auch die von VMware durch Broadcom Chancen, so Forrester. Beispielsweise hätten beide Anbieter hochwertige Tools für Monitoring und Modernisierung im Angebot, die sich - in Kombination - als vorteilhaft für Kunden erweisen könnten. So stecke hinter den AIOps- und Observability-Produkten von Broadcom ein breit gefächertes Softwareportfolio, das sich für die Optimierung von Netzwerken, Anwendungen, Infrastruktur und Digital Experience Monitoring (DEM) nutzen lasse. Dieses Angebot könnte VMwares Lösungen rund um digitales Employee Experience Management ergänzen, das sich in Wirklichkeit vor allem auf die Verwaltung von Endpoints und mobilen Endgeräten konzentriere.

Broadcom könnte so im besten Falle eine marktführende Position bei AIOps und Observability erreichen, zumindest würden die Auswirkungen auf den DEM-Markt beträchtlich werden. Ebenso könnte ein integriertes Broadcom-VMware-Angebot aus Kundensicht die volle Transparenz von der Cloud bis zu jedem Endpunkt ermöglichen, einschließlich mobiler und virtueller Endpoints. Sollte Broadcom allerdings weiter in Enduser-Experience-Lösungen investieren, wäre das vermutlich nachteilig für das dann marginalisierte VMware-Angebot.

Der Zusammenschluss könnte zudem dazu führen, dass sich Broadcom als Workload-Modernisierungsplattform vermarkten kann, mit der Unternehmen in die Welt der Cloud-Native- Technologien eintauchen können. Das Versprechen wäre dann: "Wir stellen ihre Legacy-Workloads auf Cloud-Native um, ohne dass es zur Abhängigkeit von einem der großen Cloud-Anbieter kommen muss." Forrester zweifelt aber daran, dass dieser Erfolg realistisch ist. "Wenn Sie ein VMware-Unternehmen sind, müssen Sie in naher Zukunft eine Entscheidung treffen", heißt es vielsagend zum Abschluss der Analyse.