Telekom-Geschäftskundenchef im Interview

"Wir verspielen unsere Zukunft"

13.09.2022
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
Mit Hagen Rickmann, Geschäftsführer Geschäftskunden Telekom Deutschland GmbH, diskutierte Redakteur Jürgen Hill über den Stand der Digitalisierung in Deutschland.
Hagen Rickmann, Geschäftsführer Geschäftskunden bei der Telekom, im Interview.
Hagen Rickmann, Geschäftsführer Geschäftskunden bei der Telekom, im Interview.
Foto: Deutsche Telekom

Herr Rickmann, heute startet mit der Digital X einer der großen Digital-Events Europas. Sie sind einer der Initiatoren und Schirmherr der Veranstaltung. Was war Ihre Motivation, diese Veranstaltung ins Leben zu rufen?

Hagen Rickmann: Ich habe mir immer eine echte Digitalisierungsmesse gewünscht, wo man nicht einfach nur ausstellt, sondern vor allem viel miteinander redet und das in einer entspannten Atmosphäre. Das war auf anderen großen Messen nicht immer möglich. Die Telekom war häufig ein großer Publikumsmagnet, doch der Dialog mit dem qualifizierten Fachbesucher kam nicht richtig zustande.

Und was ist jetzt bei der Digital X anders?

Rickmann: Wir haben eine Event-Umgebung geschaffen, in der sich die Besucher informieren können, Inhalte mitnehmen, offen miteinander reden und voneinander lernen können. Als ich die Digital X ins Leben gerufen habe, erntete ich anfangs viel Kritik. Mittlerweile haben wir ein starkes Partner-Netzwerk, eine Menge redaktioneller Angebote, Top-Inhalte. Zudem entstehen bzw. entstanden während des Events offene Communities - unter dem Strich ist das aus meiner Sicht viel mehr Digitalisierung zum Erleben, zum Anfassen kombiniert mit dem Austausch untereinander. Und das in einem Rahmen, der auch ein bisschen Spaß macht.

Apropos qualifizierte Besucher, mir ist aufgefallen, dass die Digital X nun auch private Besucherinnen und Besucher adressiert. Warum?

Rickmann: Ja das ist richtig. Wir möchten die Menschen in den vier Quartieren (Anm. d. Red.: Statistische Quartiere sind in Köln seit 2020 die Nachfolger der klassischen Stadtviertel) in unseren Event einbinden und für Digitalisierungsthemen begeistern. Mit verschiedenen Ticketkategorien können wir einerseits den Business-Besuchern die geschäftlichen Foren zum Austausch anbieten, anderseits vermitteln wir allen Menschen vor Ort gemeinsam mit unseren 300 Partnern und Ausstellern einen Eindruck von der Digitalisierung.

Digitalisierung zum Anfassen - geht es nach Hagen Rickmann, soll sich die Digital X zu einer Weltausstellung für Digitalisierung entwickeln.
Digitalisierung zum Anfassen - geht es nach Hagen Rickmann, soll sich die Digital X zu einer Weltausstellung für Digitalisierung entwickeln.
Foto: Deutsche Telekom

Zurück zum Business-Besucher. Geht es Ihnen nur darum, die Digitalisierungs-Leistungen/-Services der Telekom zu vermarkten, oder verfolgen Sie einen breiteren Ansatz?

Rickmann: Der Anspruch ist definitiv breiter und größer: Es geht darum, die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu erhöhen. Deshalb lassen wir den Partnern auf der Digital X auch ihre Identität. Wenn der eine oder andere indirekte Wettbewerber teilnimmt, dann ist das auch OK. Letztlich geht es darum, für den deutschen Mittelstand die richtige Digitalisierungs-Lösung zu finden. Natürlich wollen wir dabei auch profitieren. Wichtig ist mir, dass unsere Geschäftskunden mit einem guten Gefühl von der Digital X gehen, denn manche Geschäfte bahnen sich erst später an.

"Deutschland muss beim Thema Digitalisierung aufholen"

Sie sprachen von großen Ansprüchen. Die Digital X wird als Weltausstellung der Digitalisierung beworben. Bei Weltausstellung denke ich aber automatisch an Events wie die Expo in Mailand oder Dubai?

Rickmann: Dieser Vergleich wäre vielleicht noch etwas überheblich. Dennoch kann ich mir gut vorstellen, dass wir dorthin kommen können. Aber dazu müssen wir in Deutschland beim Thema Digitalisierung aufholen. Warum soll es in Europa nur einen MWC (Anm. d. Red.: Mobile World Congress) geben, auf dem Zukunftsthemen diskutiert werden? Wenn wir das Herz Europas sind und der größte Teil der Bruttowertschöpfung aus Deutschland kommt, dann sollten wir auch den Anspruch haben, eine Weltausstellung zum Thema Digitalisierung in Deutschland zu veranstalten.

Nur darüber zu reden reicht nicht aus, denn dann findet eine solche Veranstaltung irgendwann woanders statt. Mich ärgert es persönlich, dass wir hier nicht ganz vorne mitspielen. Es ist zugleich auch mein Antrieb neben dem, als Telekom-Manager Umsatz zu generieren, aber die Idee ist hier wirklich, Schritt zu halten. Wir sind im Moment im europäischen Vergleich auf Platz 12, was die Digitalisierung in Deutschland anbetrifft. Das kann und darf nicht sein, denn aus meiner Sicht verspielen wir hier einen Teil unserer Zukunft.

Wichtig ist, auf Messen, Ausstellungen etc. zu zeigen, was wir können, indem wir unsere Mittelständler, die Hidden Champions, auftreten lassen. Ein solches Beispiel ist die Firma Wilo aus Dortmund, die Pumpensysteme etwa für Heizungen herstellt. Wie stark diese Firma mittlerweile digitalisiert ist und digitaldenkt, ist einfach phänomenal. Lassen sie uns mehr solcher Beispiele der Welt zeigen. Deutschland muss bei der Digitalisierung mitreden, das sollte unser Anspruch sein.

Sie nennen Wilo als hidden champion. Wo stehen denn die deutschen Unternehmen in Sachen Digitalisierung? Kann man sagen, es gibt viel Licht, aber auf der anderen Seite sehr, sehr dunkle Schatten?

Rickmann: Ich würde nicht unbedingt von sehr, sehr dunkel sprechen. Etwa zwei Drittel der Unternehmen sind auf einem guten Weg, aber ein Drittel hat noch anständigen Nachholbedarf. Nehmen Sie nur eine KfW-Studie aus dem letzten Jahr. Danach investieren wir in Relation zu unserem Bruttoinlandsprodukt nur rund 1,4 Prozent in IT und damit Digitalisierung. Um hochentwickelte, digitale Länder wie Schweden, die Niederlande oder USA einzuholen, müssten wir aber über 5 Prozent investieren. Oder nehmen Sie das 18-Punkte-Programm von Minister Wissing, da schließe ich mich der Kritik der Presse an, es greift nicht weit genug und vor allen Dingen nicht tief genug. Hier gilt es definitiv nachzulegen.

"In der Forschung führend, in der Umsetzung nicht gut"

Stichwort nachlegen. Haben wir nicht auch in puncto KI Nachholbedarf, denn KI gehört für mich unweigerlich zur Digitalisierung?

Rickmann: Wir sind führend in der Forschung, aber in der Umsetzung nicht besonders gut. Wir erheben jedes Jahr den Digitalisierungsindex Mittelstand. Danach setzen lediglich zehn Prozent der Unternehmen KI-Anwendungen wirklich ein und nur 20 Prozent haben für die nächsten 12 bis 24 Monate konkrete Pläne.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Rickmann: Künstliche Intelligenz klingt immer sehr hochtrabend. Dabei kann ich schon mit einfachen Lösungen wie Chatbots oder einer intelligenten Rufweiterleitung anfangen. Hier gibt es schon viele Standardlösungen, die nicht teuer sind - gerade für mittelständische Unternehmen. Davon wird jedoch zu wenig Gebrauch gemacht. Potenzial sehe ich auch bei den Banken. Wenn ich bei meiner Sparkasse anrufe, dann ist das noch wie vor 30 Jahren.

Dabei gibt es fantastische Lösungen, mit denen die Probleme der Kunden schnell und einfach gelöst werden können. Indem Sie etwa automatisch einen Termin bekommen, zu dem Sie wieder anrufen können und Ihr Kundenberater Zeit hat. Oder Sie werden gezielt mit jemanden verbunden, der über die entsprechende Expertise für Ihr Anliegen verfügt. Gerade mit Hilfe der KI ist es einfach möglich, eine bessere Kundenbindung herzustellen. Drei Tage Wartezeit, wenn Sie eine Anlage- oder Kreditanfrage haben, ist in der heutigen Zeit nicht mehr akzeptabel, zumal die Online-Banker schneller unterwegs sind.

Geschäftskunden-Chef Rickmann ärgert es persönlich, dass Deutschland bei der Digitalisierung nicht ganz vorne mitspielt.
Geschäftskunden-Chef Rickmann ärgert es persönlich, dass Deutschland bei der Digitalisierung nicht ganz vorne mitspielt.
Foto: Deutsche Telekom

Woran hapert es in Ihren Augen?

Rickmann: An dem Bewusstsein in den Unternehmen. Noch ein Beispiel, ich hatte letztens einen klassischen Steinschlag in der Autoscheibe. Als ich bei der Werkstatt anrief, konnte ich gleich via Telefon alle erforderlichen Daten eingeben. Und der Service-Mitarbeiter hatte die Informationen in seiner Maske und konnte mir sofort sagen, ob die Scheibe auf Lager ist und gewechselt werden kann. Und dann fragt er mich, wann ich kommen will? Er fragt mich als Kunden wann? Bei der Abholung das gleiche Spiel, alles inklusive Rechnung war schnell fertig.

Hier hat sich jemand Gedanken über seine administrativen Prozesse gemacht und sie durchgängig IT-gestützt beschleunigt. Zudem hat er sich wahrscheinlich gesagt, dass er in diesem Markt nur bestehen kann, wenn er die Probleme seiner Kunden schnell löst. An dieser Stelle gibt es noch eine Herausforderung, nämlich wie errechne ich die Effizienz in einem solchen Prozess. Damit stoßen wir schnell in die Kategorie Analytics, womit sich der Mittelstand schwertut.

In wie vielen mittelständischen Unternehmen finden Sie einen Mitarbeiter, der vom Chef unterstützt wird, sich Gedanken über die Prozesse macht und die Freiheit hat, im Betrieb Fragen zu stellen, wie und wo man vielleicht etwas verändern könnte, um effizienter zu werden? Ohne Analytics und das Denken darüber sowie den Dialog mit der Belegschaft werden die Unternehmen nicht zu den digitalen Anwendungen kommen. Diese Freiheitsgrade muss ein Unternehmer erlauben und er braucht Mut. Zudem einen langen Atem, denn das sind Themen, die sind nicht in zwei Wochen zu erledigen.

"Belegschaften müssen lernen, digital zu denken"

Unternehmerischer Mut ist das eine, aber wie sieht es mit der Belegschaft aus?

Rickmann: Die Anforderung an die Belegschaft ist, digital denken zu lernen. Das ist kein Prozess, wo ich mal eine kleine Versammlung abhalte und dann geht es los. Wichtige Aufgabe eines Unternehmers ist, seine Mitarbeiter mitzunehmen und ihnen die Angst zunehmen, dass KI ihnen die Jobs nehmen könnte. Schließlich entstehen aus den Veränderungen, den neuen Prozessen garantiert wieder neue Service-Profile und damit Jobs. Mitarbeiter überzeugen und im Unternehmen eine entsprechende digitale Kultur prägen - das gehört für mich zu den zwingenden Voraussetzungen für erfolgreiche KI-Projekte.

Haben Sie ein oder zwei Beispiele für erfolgreiche Projekte?

Rickmann: Mir fallen hierzu zwei Startups aus unserem Techboost-Programm ein. Das eine ist die Firma Recogizer aus Bonn, die intelligente Klimatechnik für Gebäude anbietet. Dazu hat das Unternehmen eine KI-Software für smarte, effiziente und nachhaltige Klimatechnik und Energiemanagemententwickelt. Die Software nutzt komplexe Datenströme als Basis für eine Optimierung der Prognosegenauigkeit und des Energieverbrauchs und kann so etwa vorhersagen, wann ein Raum mit x Personen belegt ist und im Vorfeld das Raumklima schon entsprechend regeln. Dadurch wird der CO2-Ausstoß von Bestandsgebäuden deutlich gesenkt und gleichzeitig werden Kosten eingespart. Recogizer geht von mehr als 20 Prozent CO2- und Energieeinsparung aus, bei gleichzeitiger Verbesserung des Raumklimas - also auch dem Wohlbefinden der Mitarbeiter.

Das Bonner Unternehmen Recogizer setzt bei der Gebäudesteuerung auf KI-Unterstützung.
Das Bonner Unternehmen Recogizer setzt bei der Gebäudesteuerung auf KI-Unterstützung.
Foto: Recogizer

Ein anderes Beispiel ist FUSE-AI aus Hamburg. Das Unternehmen steht zwar noch am Anfang der Entwicklung, ist aber ein spannender Case. FUSE-AI nützt Künstliche Intelligenz, um Radiologen bei der Diagnose von Karzinomen zu unterstützen. Dazu analysiert die KI selbstständig MRT-Aufnahmen und schätzt ein, ob die Tumore gut- oder bösartig sind. Sie bietet somit eine zweite Meinung für die Ärzte aus der Cloud. Das erleichtert die Arbeit der Radiologen und erhöht gleichzeitig die Diagnosequalität. Perspektivisch ist die Erweiterung der KI auf weitere Use Cases denkbar.

FUSE-AI nützt KI für die Karzinom-Erkennung.
FUSE-AI nützt KI für die Karzinom-Erkennung.
Foto: FUSE-AI

Wir haben viel über den KI-Einsatz in verschiedenen Branchen gesprochen. Wie sieht es den konkret mit dem KI-Einsatz in Ihrem Hause aus? Es ist ja immer wieder zu lesen, dass Netzwerke oder Security-Systeme künftig ohne KI nicht mehr betrieben werden können.

Rickmann: Das ist teilweise schon heute so. Nehmen Sie nur die zahlreichen Angriffe auf unser Netz - das sind so um die 50 Millionen an jedem Tag. Eine solche Menge können Menschen gar nicht mehr bearbeiten, sondern nur noch KI-Systeme bewältigen, die die Attacken identifizieren.

Ebenso setzen wir KI im Servicebereich ein. Die arbeitsaufwendige Vorqualifizierung bei Kundenanrufen übernehmen bei uns Chatbots - da die Qualifizierung für uns ein wichtiger Kostenfaktor ist. Ehrlicherweise muss man aber dazu sagen, dass es einige Zeit dauert, bis die Chatbots so eingestellt sind, dass sie den Produktionsprozess sauber unterstützen. Auf der anderen Seite wären wir ohne KI nicht wettbewerbsfähig, weshalb wir fortlaufend in das Thema KI investieren und neue Dinge ausprobieren. Natürlich steuern wir auch unsere Netze mit KI-Unterstützung - wobei die Betonung auf Unterstützung liegt: Fachkundige Experten sind weiterhin unverzichtbar, denn die KI übernimmt hier nur Standardprozeduren.

Zu viele Science-Fiction-Filme gesehen?

Sie zeichnen das Bild einer unterstützenden KI - vor diesem Hintergrund frage ich mich, warum der KI-Einsatz in Deutschland eine solch geringe gesellschaftliche Akzeptanz hat, wenn ich beispielsweise an das Potenzial in der Onkologie denke?

Rickmann: Ein Grund ist in meinen Augen, dass nicht sauber über das Thema KI aufgeklärt wird. Hier besteht ein Misstrauen. Eventuell rührt das daher, dass es in den 70er und 80er Jahren zu viele Science-Fiction-Filme gab, in denen intelligente Maschinen selbständig loslaufen und alles bedrohen. Dieses Bild einer KI wurde dann verinnerlicht. Letztlich müssen wir uns als Gesellschaft die Fragen stellen, wie gehen wir mit KI um, und wo setzen wir sie ein? In der Onkologie liegt es auf der Hand, KI einzusetzen.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Rickmann: Nummer Eins wäre, wir brauchen mehr Aufklärung in Sachen KI. Nummer Zwei: Wir müssen agiler und flexibler werden. Ja, wir brauchen klare Regeln und Gesetze. Aber wir sollten regelmäßig überprüfen, ob sie noch zeitgemäß und der Situation angemessen sind. Drittens hilft ein gesunder Pragmatismus, denn gerade die Pandemie hat gezeigt, dass Schnelligkeit manchmal wichtiger als Perfektion ist. Warum können wir uns nicht mal mit 98 Prozent begnügen, wie es uns die Amerikaner vormachen.

Bei Gaia-X theoretisieren und diskutieren wir immer noch. Als ich vor zwei Jahren irgendwo sagte, dass ich das sehr kritisch sehe und nicht glaube, dass es funktioniert, gab es einen Riesenaufschrei. Wir brauchen Geschwindigkeit und Pragmatismus und müssen unsere Entscheidungen immer wieder überprüfen, weil wir in einem Ökosystem leben, das sich permanent weiterentwickelt. Die Zeiten, in denen wir unsere Entscheidungsgeschwindigkeit an den Post-Laufzeiten ausrichten konnten, sind in einer digitalisierten Welt vorbei.