Der Pandemie die Schuld an den aktuellen Lieferengpässen in die Schuhe zu schieben, wäre ebenso einfach wie falsch. Bereits davor legten Fabrikschließungen, Arbeitskämpfe und jede Menge Konflikte Logistikzentren lahm und brachten die Handelsschifffahrt zum Erliegen. Das jahrzehntelang propagiere "Just-in-time"-Modell funktioniert eben nur, wenn die Rahmenbedingungen intakt sind, und das ist längst nicht der Fall. Resultat: Lieferschwierigkeiten weltweit in allen möglichen Produktgattungen, von Laptops über Gartenmöbel bis hin zu blauer Farbe.
Doch es gibt auch einen technischen Grund für die anhaltenden Probleme in der Lieferkette: die Abhängigkeit von veralteten IT-Systemen und manuellen Prozessen, um Waren vom Bauernhof oder der Fabrik zu ihrem endgültigen Bestimmungsort zu bringen. Einige der komplexesten Lieferketten arbeiten heute immer noch mit Spreadsheets, E-Mails und Whiteboards.
Fast 40 Prozent der Unternehmen wickeln den Großteil ihrer Beschaffung manuell ab. Nur 6 Prozent haben ihre Lieferkettenprozesse vollständig automatisiert, wie eine Umfrage von SAP und Oxford Economics im April 2021 ergab. "Das führt zu horrenden Produktivitätsverlusten und bietet ein Riesenpotenzial für Fehler, die vom Management sehr schwer nachzuvollziehen sind", sagt Chris Taylor, Chief Transformation Officer bei ServiceNow.
Natürlich wird Technologie die aktuellen Störungen in der Lieferkette nicht allein auflösen können. Dennoch zeichnet sich ab, dass der KI-gestützte digitale Zwilling Lieferengpässe und andere Störungen der Supply Chain entschärfen könnte, indem er sie vorhersehbarer macht - und das würde die Vorbereitung auf Krisen auf ein neues Niveau heben.
Auf dem Weg zur virtualisierten Lieferkette
Das Konzept des digitalen Zwillings hat seine Wurzeln in der industriellen Simulationssoftware, die seit den Siebzigerjahren in Teilen der Fertigung, der Luft- und Raumfahrt, der Halbleiterindustrie und anderen Branchen eingesetzt wird. Das Internet der Dinge (IoT), moderne Datenanalyse und maschinelles Lernen verleihen digitalen Zwillingen neue Möglichkeiten, indem nun ganze Produktionsanlagen und komplette vernetzte Prozesse simuliert werden können.
Die neuen Möglichkeiten führen dazu, dass Hersteller nun Maschinen in der Fabrikhalle nachbilden, um besser vorhersagen zu können, wann welche Komponenten gewartet werden müssen. Damit erhöhen sie die störungsfreie Betriebszeit ihrer Anlagen. In der Medizin bilden digitale Zwillinge menschliche Organe nach, um sicherere und wirksamere Behandlungen zu entwickeln. Und die Stadtplaner von Las Vegas nutzen ein virtuelles Modell der Stadt, um die Luftqualität und den Energieverbrauch zu verbessern.
Insbesondere IoT hat dieser Technologie einen Riesenschub gebracht. Laut einer Gartner-Umfrage planen 62 Prozent der Unternehmen, die IoT-Projekte umgesetzt haben, den Einsatz digitaler Zwillinge. Insbesondere Lieferketten stellen einen attraktiven Anwendungsfall für digitale Zwillinge dar. Dabei wird maschinelles Lernen auf Datenströme angewendet, um Warenbewegungen, Materialflüsse, Bestandspositionen und Lageraktivitäten in Echtzeit zu simulieren.
Die Lebensmittellogistik von DHL
DHL beispielsweise hat den digitalen Zwilling eines Lebensmittel verarbeitenden Lagers in Südostasien erstellt. Daten, die mithilfe von Sensoren und Kameras erfasst wurden, dienen als Basis für ein 3D-Computermodell, das die Paletten im Lager als virtuelle Objekte darstellt. Mit den vom die vom Zwilling generierten Echtzeit-Betriebsdaten können die Lagerverwalter sicherstellen, dass verderbliche Waren innerhalb von 30 Minuten nach ihrer Ankunft korrekt eingelagert werden und dass zur Auslieferung vorgesehene Waren innerhalb von 95 Minuten nach Anforderung versandfertig sind.
Digitale Zwillinge ermöglichen die Automatisierung Tausender Entscheidungen in Echtzeit und die Modelle dazu können in großem Maßstab angewendet werden, glaubt Dan Isaacs, Chief Technology Officer des Digital Twin Consortiums. Die internationale Organisation wurde eigens dazu gegründet, um die Einführung digitaler Zwillinge in verschiedenen Branchen voranzutreiben.
Laut Isaacs habe ein Mitgliedsunternehmen einen Zwilling seines ERP-Systems erstellt, das über 120.000 Lagereinheiten in mehr als 2.500 Einrichtungen, Lagern und Endverbrauchern verwaltet. Alle 10 Minuten überprüft der Zwilling seinen Bestand, ermittelt den Standort jedes Artikels und stellt fest, welche Kunden ihn angefordert haben.
Das System gibt rund 250.000 Empfehlungen pro Monat darüber ab, wohin und wie jeder Artikel zu versenden ist. Außerdem weist es auf besondere Umstände hin, die es nötig machen, einen menschlichen Manager einzuschalten. "Mehr als 90 Prozent dieser Entscheidungen sind automatisiert", sagt Isaacs. "Da kann Excel nicht ganz mithalten."
Krisenfest dank "Was-wäre-wenn"-Simulationen
Digitale Zwillinge ermöglichen es Managern auch, Millionen von Simulationen durchzuführen und mithilfe von KI die Ergebnisse auf der Grundlage verschiedener Variablen vorherzusagen, sagt Özden Tozanli, Postdoktorandin am MIT Center for Transportation & Logistics. Ihre Forschung konzentriert sich darauf, wie digitale Zwillinge als Teil der Strategie der digitalen Transformation in die Lieferketten integriert werden kann. Beispielsweise können Manager mit einem Zwilling Unterbrechungen in verschiedenen Vertriebszentren simulieren, die ihnen sagen, wie sie Sendungen auf andere Zentren verlagern können, um einen Zusammenbruch ihrer Lieferketten zu verhindern.
Die langfristig vielleicht vielversprechendste Funktion des digitalen Zwillings ist die Durchführung von Was-wäre-wenn-Szenarien, die den Unternehmen vorausschauende Erkenntnisse über die Zukunft liefern. Was wäre, wenn ein schwerer Wirbelsturm die Autofabriken in Thailand lahmlegt? Digitale Zwillinge könnten die Risiken berechnen, die Auswirkungen auf die Lieferkette abschätzen und Maßnahmen vorschlagen, um die Unterbrechungen im Ernstfall zu minimieren.
"Digitale Zwillinge geben Ihnen die Möglichkeit, mehrere Was-wäre-wenn-Szenarien durchzuspielen und das optimale Szenario auszuwählen", sagt Tozanli. "Sie können taktisch oder strategisch eingesetzt werden, um zu sehen, wie sich eine Änderung im Design Ihres Liefernetzwerks in fünf oder zehn Jahren auswirken würde."
Digitale Zwillinge verarbeiten eine Unmenge an Daten aus sehr unterschiedlichen Quellen, um Vorgänge zu automatisieren. Eine Plattform wie ie Now Platform von ServiceNow ist geradezu dafür prädestiniert. Welche Rolle sie bei der Logistik von Airbus beispielsweise spielt, erfahren Sie hier. Ein Whitepaper über die Zukunft der Logistik können Sie hier herunterladen.