Virtuosität in agilen Teams

Was kommt nach der Agilität?

27.11.2019
Von 
Andreas Slogar ist Autor des laCoCa-Modells für agile Organisationen, lacoca.org, des Buches "Die agile Organisation", Hanser Verlag und Gründer des BlueTukser.com- Expertise-Netzwerks.

Lösung: Jazz

Wer das Glück hat, ein wirklich agiles Team bei seiner Arbeit zu beobachten oder sogar selbst Mitglied eines solchen zu sein, wird auf Leichtigkeit stoßen. In hochgradig leistungsfähigen und anpassungsfähigen Teams, also genau jenen, die mit dem Begriff agil assoziiert oder geschmückt werden, stellt man unter anderen folgende Phänomene fest:

• Jedes Mitglied im Team respektiert und schätzt jedes andere Mitglied für seine Fähigkeiten, Talente, Erfahrungen und Kompetenzen.

• Jeder Teilnehmer stellt sein Wissen und seine Fähigkeiten uneingeschränkt zur Verfügung und gibt diese an andere Mitglieder weiter.

• Konstruktive Kritik und aktives Feedback werden als Grundlage einer guten Kollaboration geschätzt und genutzt.

• Die fachliche Kompetenz eines Teammitglieds ist untrennbar mit seiner Entscheidungsautorität verbunden.

• Alle Personen im Team behandeln einander wie erwachsene Individuen und schätzen jedwede Individualität.

Wann immer ich auf derartige Teams stoße, stelle ich fest, dass Methoden lediglich notwendige Werkzeuge sind, die einen Zweck erfüllen: Sie sollen das Erreichen der vereinbarten Zielsetzung unterstützen. Methoden sind also lediglich Mittel zum Zweck.

Beobachte ich derartige Teams, erinnert mich das frappierend an die Musiker eines Jazzensembles. Jedes Mitglied des Ensembles beherrscht mindestens ein Instrument und leistet mit seinen musikalischen Fähigkeiten und Talenten einen individuellen Beitrag, der die Komposition lediglich als Grundstruktur und Orientierungshilfe nutzt. Die gemeinsame Musik entsteht jedoch nicht alleine durch das Festhalten und Wiederholen der vorgegebenen Noten. Die individuelle Interpretation und das Einbringen von Soli verleihen der Kollaboration der Musiker erst ihre Virtuosität und Leichtigkeit.

Jeder Musiker ist mit der Materie vertraut, beherrscht die Regeln und Strukturen der Musik und vor allem sein Instrument. Keiner im Ensemble besteht aber dabei auf seinen eigenen Vorstellungen, wie eine Komposition zu spielen ist, sondern bringt sich und seine Ideen ein, respektiert die der Mitspieler, lässt sie gewähren, folgt ihnen und unterstützt sie, damit letztlich ein gemeinsames Stück Kunst entstehen kann. Sie befinden sich in einem kollektiven Flow und wissen im Vorfeld nicht, wie exakt das Endergebnis aussehen wird. Das Ergebnis ist der Virtuosität des Zusammenspiels überlassen.

Diese Kollaboration und das Selbstverständnis von Jazz-Musikern stellen einen grundlegenden, aber wertfreien Unterschied zur Kooperation eines Orchesters dar. Auch Orchestermusiker sind Virtuosen ihres Fachs. Auch sie verstehen die Regeln der Musik, auch sie gehen aufeinander ein und unterstützen einander, um gemeinsam ein Kunstwerk zu schaffen. Aber die Dynamik, der sie folgen, unterliegt strengen Strukturen. Interpretation und Individualität werden auf das beschränkt, was Komponist und Dirigent vorgeben oder zulassen.

Beide Teams von Musikern sind, wie gesagt, virtuos. Für mich symbolisieren diese beiden Arten von Musikschaffenden den Unterschied zwischen tayloristischer Hierarchie und agiler Kollaboration. Beide Musikformen und Vorgehensmodelle haben ihre Berechtigung und repräsentieren einen bestimmten Abschnitt in der Evolution der Musik. Keine ist besser als die andere, unter ihnen besteht keine Rivalität. Aber Kontext und Charakter könnten unterschiedlicher nicht sein, obwohl letztlich musikalische Kunstwerke produziert werden.

Fazit

Anstelle der Suche nach der nächsten besten Methode oder nach dem, was nach "agil" kommt, stellt sich für mich die Frage: Wie schaffen wir wirtschaftlich überlebensfähige und anpassungsfähige Unternehmen, indem wir die Virtuosität der darin engagierten Menschen entwickeln? Wie kommen wir dahin, dass agile Teams in Organisationen zu Jazzensembles werden, in denen sich die Mitglieder gegenseitig respektieren, akzeptieren, tolerieren und unterstützen? Wie überzeugen wir diese Menschen davon, dass nur durch eine offene und wertschätzende Kommunikation und Kollaboration und Leichtigkeit etwas wirklich Großes entstehen kann? Nur so kann etwas wachsen, das viel größer ist, als es je mit Hilfe einer Methode möglich sein wird.