Ratgeber Cloud-Migration

Warum der Blick auf jede einzelne App zählt

07.09.2023
Von  und
Prof. Dr. Volker Gruhn ist Mitgründer und Aufsichtsratsvorsitzender der adesso AG. Außerdem hat er den Lehrstuhl für Software Engineering an der Universität Duisburg-Essen inne. Gruhn forscht unter anderem über mobile Anwendungen und Cyber-Physical Systems.
Pascal Reddig ist Leiter des Competence Centers Google Cloud bei der adesso SE in Dortmund.

Vier Schritte - ein Ziel

In der Praxis hat sich ein vierstufiger Prozess bewährt, der den strategischen Rahmen des Gesamtprojektes setzt. Er trägt dazu bei, den Beteiligten die operative Umsetzung zu erleichtern.

Die Cloud-Migration von Anwendungen erfolgt in einem vierstufigen Prozess
Die Cloud-Migration von Anwendungen erfolgt in einem vierstufigen Prozess
Foto: adesso

1. Advise - von der IT- zur Cloud-Strategie

Cloud-Konzepte sind eingebunden in bestehende Organisationen und vorhandene Prozesse. Die IT-Strategie des Unternehmens gibt vor, welche Rolle die Cloud spielen soll und wie diese Rolle auszugestalten ist. Wichtig dabei ist, dass die Zielsetzung und Vision des Business nicht mehr isoliert von den Möglichkeiten der Cloud betrachtet wird. Aus beidem zusammen gilt es, die "Cloud Business Vision" abzuleiten.

Dieses Vorgehen gibt die Leitplanken für den Umgang mit der Cloud vor: Welche generellen Zielvorgaben sind zu berücksichtigen? Welchen Handlungsspielraum ermöglicht das Management? Wie sieht die Roadmap aus, die sich daraus ableiten lässt? Welche Punkte ergeben sich aus Governance- und Compliance-Vorgaben? Wie muss eine Organisationsform aussehen, die bereit für die Cloud ist (Sichtwort Cultural Change Management)?

Auch organisatorische Aspekte sollten die Entscheider im Blick haben: Welches Fachwissen ist nötig und welches bringt das vorhandene Team mit? Wo sind die Skill-Lücken? Welche Aufgaben sind für das Gelingen von Cloud-Projekten ist der Gleichklang aus Organisation, Prozessen und Technologien entscheidend? Allen Aspekten müssen die Teams gleichermaßen Aufmerksamkeit schenken.

2. Envision - von der Cloud- zur Migrationsstrategie

Auf dieser Basis erarbeitet das Projektteam einen Fahrplan für das Umsetzen der Cloud-Aktivitäten. Zunächst muss es die Details der IT-Landschaft verstehen und bewerten. Die Beteiligten verschaffen sich dazu einen Überblick über die genutzten Anwendungen. Sie analysieren die dazugehörigen Entwicklungs- und Betriebsprozesse. Gleichzeitig bewerten sie die Bedeutung der Systeme für die IT und den unternehmerischen Erfolg. Details dazu finden Sie weiter unten "Die Optionen".

3. Build & Deploy - das Umsetzen der Strategie

Die Beteiligten setzen je nach Bewertung einer Applikation das passende Szenario ein. Wie bereits erläutert, sind unterschiedliche Optionen und Ausführungen denkbar: von der Neuentwicklung als Cloud-native-Anwendung bis zum Abschalten. Zwischen diesen beiden Polen existieren weitere Abstufungen, die einzelne Elemente der Varianten kombinieren. So entsteht, Schritt für Schritt und Applikation für Applikation, eine optimale IT-Landschaft in der Cloud.

4. Run & Enhance - der alltägliche Betrieb

Der Betrieb und das kontinuierliche Verbessern dieser Landschaft stehen am Ende des Prozesses. Dazu gehört das kontinuierliche Bewerten von Applikationen sowie das Überwachen der Lauf- und Leistungsfähigkeit. Hinzu kommt das Prüfen neuer Technologien oder alternativer Angebote.

Von besonderer Bedeutung für den Erfolg dieses Vorgehens ist das Bewerten der einzelnen Applikation. Diesem Thema widmet sich der folgende Abschnitt.

Die Optionen

Am Anfang steht die Inventur, und die fördert häufig so manche Überraschung zutage. Das gilt etwa für Anwendungen, die - unbemerkt vom IT-Betrieb - in den Fachabteilungen ihren Dienst verrichten. Oder für Erweiterungen, die irgendwer vor Jahren gefordert hat, die aber de facto kaum oder gar nicht genutzt werden.

Auf die Bestandaufnahme folg das Assessment. Die folgende Abbildung beschreibt ein mögliches Vorgehen anhand eines vereinfachten Modells, wobei die angenommene IT-Landschaft eines Unternehmens aus nur drei Anwendungen besteht. Die Verantwortlichen prüfen und bewerten jede Applikation, in diesem Beispiel auf der Basis von drei Kriterien:

  • Business Impact: Welche Bedeutung hat die Anwendung für das Geschäft?

  • Usage: Wie oft wird sie - von Mitarbeitenden oder Kunden - genutzt?

  • Complexity: Wie komplex ist die Anwendung und wie aufwändig wäre eine Migration?

Mögliches Vorgehen für das Assessment von Apps bei der Cloud-Migration.
Mögliches Vorgehen für das Assessment von Apps bei der Cloud-Migration.
Foto: adesso

Diesen Kriterienkatalog können die Projektbeteiligten beliebig erweitern oder verändern. Je nach Ausgangssituation spielen sicher auch rechtliche Rahmenbedingungen eine Rolle. In der Praxis sind es meist mehr als ein Dutzend Merkmale, die in die Bewertung einfließen.

Exkurs: Green IT

Für die Überlegungen vieler Verantwortlicher spielen Aspekte wie Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle, Stichwort "Green IT". Auch dieses Kriterium kann in das Assessment einfließen. Den Überblick über den CO2-Verbrauch der eigenen Infrastruktur können Unternehmen nur mühsam ermitteln. Viele Cloud-Anbieter liefern diese Daten mittlerweile "out of the box". Sie bieten Dashboards, mit denen man den CO2-Verbrauch bis auf Applikation und Applikationsbaustein herunter monitoren, analysieren und somit optimieren kann.

In dem simplen Beispiel steht am Ende eine Reihenfolge der drei betrachteten Anwendungen. Ist die Applikation wichtig, nutzen sie viele Personen und ist der Grad der Komplexität gering? Trifft das alles für eine Applikation zu, ist sie ein guter Kandidat für eine Cloud-native-Aufbereitung. Hier können Unternehmen schnell die Früchte ihres Investments ernten. Ein anderes Vorgehen empfiehlt sich sicher, wenn die Auswirkungen auf das Geschäft gering sind, wenige Anwender mit der App arbeiten und zudem eine hohe Komplexität beim Umbau zu erwarten ist.

Mit einer solchen Vorgehensweise können die Entscheiderinnen und Entscheider auch komplizierte IT-Landschaften Applikation für Applikation durchforsten. Am Ende steht eine nach Priorität geordnete Liste.

Für jedes Element auf dieser Liste ergibt sich eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten. Man spricht von den "fünf R". Die folgende Übersicht vermittelt einen Eindruck.

  • Replace (oder auch Extend): das Ersetzen einer Anwendung durch eine neue, modernere und Cloud-fähige Alternative. Möglich wäre auch die "Erweiterung" einer bestehenden Lizenz, um das Cloud-Angebot eines Softwareherstellers statt der On-premises-Variante nutzen zu können (beispielsweise für Atlassian Confluence). Ebenfalls in diese Kategorie gehört das Verwenden einzelner Komponenten, wie einer Datenbank als SaaS-Lösung ein Hyperscalers.

  • Refactor (auch Re-Architecture oder Rebuild): der vollständige Neuaufbau einer Anwendung mit Cloud-native-Architektur im Hinterkopf.

  • Rehost: das klassische Lift & Shift.

  • Retire: das Abschalten. Auch das ist häufig eine valide Option.

  • Retain: der unveränderte Weiterbetrieb. Nicht jede Anwendung muss migriert werden, beispielsweise dann nicht, wenn ihre Abschaltung bereits geplant ist

Inventarisierung und Kategorisierung von Anwendungen vor der Cloud-Migration.
Inventarisierung und Kategorisierung von Anwendungen vor der Cloud-Migration.
Foto: adesso

Mit den Ergebnissen des Assessments im Gepäck und dieser Liste möglicher Alternativen vor Augen haben die Beteiligten alles beieinander, um ihren individuellen Weg in die Cloud zu gehen.

Fazit: Ein genauer Blick auf die Anwendungen muss sein

Die Ausführungen zeigen: Die Möglichkeiten sind vielfältig, die Zusammenhänge oft so komplex, dass es ein einfaches "in die Cloud gehen" schlicht nicht gibt. Sollen Cloud-Technologien und -Angebote ihre volle Durchschlagskraft entfalten, führt an einem genauen Blick auf die einzelne Anwendung kein Weg vorbei. (hv)