Schon die Einführung des 4G-Standards (LTE) konnte die Latenzzeit im Vergleich zum 3G-UMTS-Standards um rund zwei Drittel reduzieren, nämlich von 100 auf rund 30 Millisekunden. Im Vergleich dazu stellt 5G einen erneuten Quantensprung dar: Die Antwortzeit innerhalb des neuesten Mobilfunkstandards liegt (theoretisch) bei gerade einmal einer Millisekunde und kommt damit einer Echtzeitübertragung extrem nahe. 5G könnte somit ein erfolgversprechender Ansatz zum zukünftigen, flächendeckenden Einsatz von VR- oder AR-Anwendungen sein. Denn mit End-to-End-Latenzzeiten, die unterhalb von 20 Millisekunden liegen, lassen sich bereits sehr gute VR Experiences verwirklichen und der Grad der Interaktivität für zukünftige mobile VR- und AR-Lösungen kann erheblich gesteigert werden.
Die neuen Möglichkeiten für den VR-Bereich ließen auch Joachim Stein aus dem Bereich Retail Digitalization bei der Daimler AG aufhorchen, als der neue Mobilfunkstandard im vergangenen Jahr allmählich auch in Deutschland ein Thema wurde. So sprechen auf der einen Seite Faktoren wie die steigende Anzahl von Automodellen, die hoch komplexen Features der Fahrzeuge und die zunehmende Lage der Vertriebsstandorte in Innenstädten für den Einsatz von Virtual Reality im Pre-Sales-Bereich - also in Form von VR-Showrooms. Auf der anderen Seite stellen die unterschiedlichen technischen Voraussetzungen der Mercedes-Vertriebsstandorte, was Netzwerkinfrastruktur und Hardware angeht, eine wesentliche Herausforderung für die Projektverantwortlichen dar.
Eine Hürde, die die 5G-Technologie zu überwinden verspricht: Durch die hohen Bandbreiten und die niedrige Latenz von 5G können AR/VR-Szenarien theoretisch ohne nennenswerte Rechenhardware vor Ort realisieren. Die Berechnung erfolgt in der Cloud und wird in Quasi-Echtzeit als Video-Stream auf dem Endgerät dargestellt. Soweit die Theorie. Aber "wird es möglich sein, ein gutes AR/VR-Erlebnis zu streamen?" Und falls ja: "Wann wird es praktisch machbar sein und unter welchen realen Bedingungen?", fasst Mercedes-Mann Stein die Überlegungen Ende 2018 zusammen.
Mit 5G Speed gegen die Gaming Sickness
Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, wurden im Rahmen eines entsprechenden Projekts gemeinsam mit Spark Reply und Infinity Reply zunächst die Anforderungen für eine reibungslose Übertragung analysiert. Wie Deng Zhi Tan, Projektverantwortlicher bei der Digitalagentur Spark Reply, ausführt, ist eine Latenzzeit von unter 20 Millisekunden insbesondere bei VR-Anwendungen enorm wichtig. Grund sei die bei vielen Nutzern auftretende, von Schwindel und mitunter Übelkeit begleitete Motion- oder Gaming Sickness. Diese wird durch die Störung des vestibulookulären Reflexes hervorgerufen, wenn eine physische Bewegung des Kopfes oder Körpers aufgrund einer verzögerten Übertragung nicht mit dem angezeigten Bild in der virtuellen Welt korrespondiert.
In dem angedachten VR-Szenario ist die 5G-Übertragung über die Luftschnittstelle allerdings nur ein Faktor von mehreren. Die Systemlaufzeit setzt sich aus weiteren Komponenten zusammen, nämlich der Übertragung von der Mobilfunk-Basisstation in die Cloud, der Zeit für die Berechnung der Videosequenzen auf dem dortigen Server - und deren Transport zurück zum Anwender.
Ähnlich wichtig sei außerdem eine hohe und stabile Framerate von mindestens 90 bis 100 Bildern pro Sekunde (fps - frames per second), so der Reply-Mann. So haben Studien gezeigt, dass niedrigere Bildwiederholungsraten zu Desorientierung, Übelkeit und anderen negativen Effekten beim Nutzer einer VR-Brille führen können. Je niedriger die Framerate, desto schlechter die Effekte. Die mit 5G in Aussicht gestellte Geschwindigkeit und Latency hänge demnach stark von der Anbindung der Basisstation an den Rest des Internets (Backhaul) zusammen. Last, but not least sei für eine realistische Echtzeit-3D-Visualisierung der A-Klasse eine hohe Qualität der Inhalte erforderlich, fasst Andersen das Ergebnis der theoretischen Untersuchung zusammen.
Mit diesen Rahmenbedingungen im Hinterkopf machte sich das auf XR-Anwendungen und digitale Inhalte spezialisierte Team von Infinity Reply für Mercedes an einen entsprechenden Proof of Concept (POC). In dem Pilotprojekt sollte visueller Content aus der Cloud auf ein mobiles Endgerät gestreamt und dabei unterschiedliche Übertragungswege (WLAN, 4G, 5G) hinsichtlich Performance, Latenz und visueller Qualität gegenübergestellt und ausgewertet werden.
5G POC - Unreal Engine trifft Mercedes A-Klasse
Für die Umsetzung der Browser-basierten Anwendung wählte das Team um Jan Havranek ein Setup der Unreal Engine basierend auf der Pixel-Streaming-Technologie. Zur Erstellung der VR-Inhalte wurden Bilder der neuen A-Klasse zusammengefügt und mit Autodesk Maya modelliert. Bei der Erstellung der hochauflösenden 3D-Visualisierungen kam Autodesk VRED zum Einsatz. Die Visualisierung übernahm dann die Unreal Engine auf einem Server in der AWS-Cloud. Die Application Rendering Framerate beträgt dabei 55 bis 60 Bilder pro Sekunde - was binokular 110 bis 120 fps ergibt und somit im grünen Bereich liegt.
Als Ausgabegerät wurde ein einfaches Google-Cardboard-System mit innenliegendem Smartphone gewählt. Die Funktionsweise: Lagesensoren im Handy erfassen die Position des Kopfes und geben so die Richtung der Kamera vor - die Informationen werden in die AWS Cloud geschickt, dort verarbeitet und in Form von Bilddaten in Quasi-Echtzeit als Stream an das Ausgabegerät geschickt.
Und das Ergebnis? Zum Zeitpunkt des POC waren 5G-Abdeckung und entsprechende Hardware nur bedingt verfügbar, so dass der finale Beweis der Machbarkeit noch fehle, räumt der Reply-Mann ein. Allerdings habe man bei einer Umsetzung über die WLAN-Schnittstelle eine Latenzzeit von zwölf bis 20 ms erzielt, während bei einer Übertragung mit 4G für eine gute VR-Experience ungenügende 40 bis 45 ms gemessen wurden.
Ein Problem sieht Havranek dennoch in den Verzögerungen, die durch die Übertragungszeiten von der Mobilfunk-Basistation zum Server in der Cloud (und zurück) zustande kommen. So vergingen für die gut 600 Kilometer lange Strecke von München in die AWS-Cloud in Frankfurt und wieder zurück rund 6 Millisekunden. Je nach Lage und Anbindung der Mercedes-Vertriebsniederlassung fällt dieser Wert aber auch deutlich höher aus. Eine mögliche Lösung für dieses Problem könnten in der Zukunft Edge-Computing-Szenarien sein, bei denen ein Server in der Basisstation des Carriers die Verarbeitung der Daten übernimmt.