Oxford-Professor im Interview

"Virtual Reality ist ein therapeutisches Medium"

21.08.2023
Von 
Matthew Finnegan lebt in Großbritannien und schreibt für unsere US-Schwesterpublikation Computerworld zu den Thema Collaboration und Enterprise IT.
Daniel Freeman ist Professor für klinische Psychologie an der Universität Oxford und erforscht, wie sich psychotherapeutische Behandlungen mit Virtual Reality automatisieren lassen.
Geht es nach VR-Forscher und Psychologie-Professor Daniel Freeman, wird automatisierte VR-Psychotherapie in Zukunft neuer Mental-Healthcare-Standard.
Geht es nach VR-Forscher und Psychologie-Professor Daniel Freeman, wird automatisierte VR-Psychotherapie in Zukunft neuer Mental-Healthcare-Standard.
Foto: Krakenimages.com - shutterstock.com

Einst vor allem ein Gaming-Phänomen, hat sich Virtual Reality (VR) in den letzten Jahren in einer Vielzahl von Anwendungsbereichen durchgesetzt. Auch im Gesundheitswesen versprechen immersive, virtuelle Welten inzwischen bemerkenswerte Vorteile - auch in Sachen Patientenversorgung.

Daniel Freeman, seines Zeichens Professor für klinische Psychologie an der renommierten University of Oxford, beschäftigt sich bereits seit dem Jahr 2001 mit der VR-Technologie und ihrer Tauglichkeit als Behandlungsinstrument für psychische Erkrankungen. Der Wissenschaftler hat auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet und unter anderem bereits untersucht, wie sich Virtual Reality als Therapiemethode gegen Höhenangst eignet.

Darüber hinaus ist Freeman auch Mitbegründer und Chief Science Officer beim Spin-Out-Unternehmen (der Universität Oxford) Oxford VR. Dieses hat mit gameChange eine Virtual-Reality-Therapie für Patienten entwickelt, die an Psychosen leiden. Die VR-Behandlungsmethode wird derzeit von den Gesundheitsbehörden in den USA und Großbritannien getestet. Zuvor hatten die Ergebnisse der bislang größten Studie in diesem Bereich nahegelegt, dass gameChange den Leidensdruck der Patienten entscheidend reduzieren kann.

Die Kollegen unserer US-Schwesterpublikation Computerworld hatten vor kurzem die Gelegenheit zu einem ausführlichen Interview mit VR-Pionier Freeman. Die haben sie genutzt, um mit dem Psychologie-Professor ausgiebig über den aktuellen Status Quo und die Zukunft der Virtual-Reality-Technologie in Sachen psychische Gesundheit zu sprechen.

"VR wird Mental-Healthcare-Standard"

Wie kann Virtual Reality eingesetzt werden, um psychische Erkrankungen zu behandeln? Was haben Ihre bisherigen Forschungen ergeben?

Freeman: Es gibt zwei Hauptaspekte bei der Technologie, die von großem Nutzen sein können, wenn es darum geht, psychische Erkrankungen zu behandeln. Einerseits ist VR von Natur aus ein sehr therapeutisches Medium: Die Tatsache, dass die Benutzer wissen, dass es sich um eine virtuelle Realität handelt, ermöglicht eine größere psychologische Flexibilität und neue Erkenntnisse zu gewinnen, die der mentalen Gesundheit förderlich sein können. Man könnte meinen, dass das Bewusstsein, dass es sich nicht um die echte Welt handelt, ein Problem darstellt - aber das ist nicht so. Im Gegenteil: Die Technologie ist wirklich nützlich, wenn es um Psychotherapie geht. Viele Patienten mit psychischen Krankheiten sind sehr in sich gekehrt und in ihren Gedanken gefangen. Die Technologie bietet diesen Menschen die Möglichkeit, ein wenig Abstand zu ihrem inneren Monolog zu gewinnen und befähigt sie, neu zu denken und zu lernen.

Der zweite wichtige Punkt: Psychotherapeutische Maßnahmen könnten über Virtual Reality künftig automatisiert bereitgestellt werden. Das könnte dazu beitragen, die erhebliche Lücke, die zwischen Therapie-Bedarf und -Angebot klafft, zu schließen. In meinen Augen bietet die Technologie die Möglichkeit, wirklich leistungsfähige Psychotherapien zu entwickeln.

Was sind die größten kurzfristigen Vorteile für die psychische Gesundheit, die eine VR-Therapie realisieren kann?

Freeman: Es gibt nur sehr wenige Bereiche, in denen sie nicht von Nutzen sein könnte. Bei Angststörungen kann ihr Einsatz durchaus sinnvoll sein, aber im Rahmen unserer Forschungen an der Universität von Oxford setzen wir die Technologie inzwischen auch in anderen Bereichen ein. Wir nutzen sie zum Beispiel, um Menschen dabei zu helfen, ihr Selbstbewusstsein zu steigern und ihr allgemeines psychisches Befinden zu verbessern. Es gibt eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Natürlich gibt es auch Bereiche, in denen der Einsatz eher keinen Sinn macht. Bei besonders schwerwiegenden Krisen wünschen sich die Patienten im Regelfall den persönlichen Kontakt zu einem erfahrenen Spezialisten.

Inzwischen befinden wir uns in einer Phase, in der es darum geht, diese Art der Therapie auch in der Praxis zu implementieren. Ich bin davon überzeugt, dass Virtual Reality künftig zum Mental-Healthcare-Standard werden wird - es macht einfach so viel Sinn. Die Frage ist nur, wie schnell es dazu kommen wird.

Daniel Freeman, Professor für klinische Psychoplogie an der University of Oxford und Pionier in Sachen Virtual-Reality-Psychotherapie.
Daniel Freeman, Professor für klinische Psychoplogie an der University of Oxford und Pionier in Sachen Virtual-Reality-Psychotherapie.
Foto: University of Oxford

In welchen Bereichen hat sich VR bereits als wirksames Instrument erwiesen, um psychische Erkrankungen zu behandeln?

Freeman: Was die Behandlung von Angststörungen angeht, ist die Beweislage meines Erachtens eindeutig. In anderen Bereichen ist das noch nicht der Fall. Die Forschung in diesem Bereich ist ein Nischenthema - es gibt nur sehr wenige Menschen, die sich damit befassen. Das gilt erst recht für automatisierte Psychotherapien. In den letzten 25 Jahren war es bislang immer so, dass VR-Umgebungen als Teil der Therapie vom Therapeuten zur Verfügung gestellt wurden.

Der Punkt, auf den ich hinaus will: Die Software und Hardware heutiger Consumer-Geräte ermöglichen es, diesen Bereich zu automatisieren. Das ist ein enormes Unterfangen und erfordert viel Programmierarbeit - hat aber den Vorteil, dass es wiederholt zum gewünschten Ergebnis führen wird. Beim althergebrachten Modell hängt das immer vom Therapeuten ab.

"Es geht nicht darum, Therapeuten zu ersetzen"

Sie haben bei Oxford VR auch daran mitgewirkt, gameChange zu entwickeln. Was können Sie zu dieser VR-Therapiemethode sagen? Welche Vorteile verspricht sie für Patienten und Gesundheitssysteme?

Freeman: Bei gameChange geht es um eine automatisierte VR-Therapie, die sich in erster Linie an Menschen richtet, die aufgrund von Psychosen an ihr Haus beziehungsweise ihre Wohnung gebunden sind. Mit Hilfe der Technologie sollen die Patienten lernen, wieder am realen Leben teilzunehmen und mit ihrer Umwelt zu interagieren. Finanziert wurde das gameChange-Projekt vom National Institute of Health Research. Wir haben zunächst über ein Jahr lang gemeinsam mit Patienten das Produkt entwickelt und uns dabei auf ein Phänomen konzentriert, das viele Psychose-Patienten erleben: Sie ziehen sich wegen ihrer Ängste zurück und isolieren sich. Nachdem das Produkt schließlich entwickelt war, haben wir es in einer Studie mit mehreren hundert Patienten erprobt - und arbeiten seitdem daran, das Ganze in die Praxis zu überführen.

In der Vergangenheit hat es sehr lange gedauert, eine Behandlung zu entwickeln, zu testen und in den Gesundheitssystemen zu etablieren. Derzeit wird gameChange vom National Institute for Clinical Excellence in Großbritannien evaluiert. Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in den USA laufen derzeit verschiedene Pilotprojekte.

Wie sehen die bisherigen Ergebnisse aus?

Freeman: Die Ergebnisse der bereits erwähnten (Anmerkung der Redaktion: und eingangs verlinkten) Studie zeigen, dass die Technologie einen positiven Effekt auf Patienten mit besonders schwerwiegenden Psychosen hat - der auch Monate später noch anhält.

Wie offen stehen die Gesundheits- und Regulierungsbehörden der neuen VR-Therapiemethode gegenüber?

Freeman: In meiner Wahrnehmung herrscht großes Interesse daran. Das Problem besteht generell eher darin, Veränderungen in einem Gesundheitssystem anzustoßen. Neue Behandlungsformen zu etablieren, ist diffizil - auch weil das Investitionen und weitere Veränderungen nach sich zieht. Es wird also noch Zeit brauchen - aber angesichts des Enthusiasmus bin ich zuversichtlich. Unsere Forschungspartner und die Verantwortlichen der britischen Gesundheitsbehörde NHS unterstützen uns, wo sie können.

Können Sie die Benefits der VR-Technologie aus Sicht des Gesundheitswesens noch etwas näher spezifizieren?

Freeman: Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass mehr evidenzbasierte psychologische Therapien angeboten werden müssen. Virtual Reality ist ein Weg, das zu erreichen. Viele Patienten mit Psychose erhalten oft keine Therapie, obwohl das hilfreich wäre. VR ermöglicht, das wirksam und kosteneffizient zu beheben.

Im Fall von gameChange setzen wir zwar immer noch auf menschliche Unterstützung, aber nicht mehr nur auf hochqualifizierte Therapeuten, sondern ein breiteres Spektrum von Mitarbeitern - darunter beispielsweise Peer-Support-Mitarbeiter oder Assistenzpsychologen. Die VR-Therapie nimmt zudem oft weniger Zeit in Anspruch als Standardbehandlungsmethoden. Es geht also im Grunde darum, den Zugang zu Psychotherapie zu optimieren, indem mehr Mitarbeiter eingebunden werden, während die Zeit für die Behandlung sinkt.

Hat eine Behandlung mit weniger persönlicher Interaktion auch Nachteile?

Freeman: Wir brauchen immer noch Psychotherapeuten. Es geht nicht darum Therapeuten zu ersetzen, sondern darum, das Therapieangebot zu erweitern. Manche Menschen wollen den persönlichen Kontakt, aber es gibt auch andere, die das nicht unbedingt bevorzugen. Man muss hier differenzieren: In einigen Fällen stellt eine Behandlung mit persönlichem Kontakt einen Schlüsselaspekt dar - in anderen sind andere Aspekte wichtiger.