Medizinische Daten wie die Gesundheitsämter während der Corona-Pandemie per Fax übertragen? Darüber können die 4U nur müde lächeln - dazu gibt es einen standortübergreifenden Storage-Grid als eine der Säulen einer datengetriebenen digitalen Medizin. Das Kürzel 4U steht dabei für den Verein "Universitätsmedizin Baden-Württemberg".
Die 4U Baden-Württembergs
Erklärtes Ziel des Vereins ist es, die standortübergreifende Zusammenarbeit in den Bereichen Krankenversorgung sowie Forschung und Lehre zu fördern. Dazu gehören die baden-württembergischen Universitätskliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm sowie die fünf medizinischen Fakultäten der Universitäten, inklusive der medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.
Gleichzeitig wollen die Unikliniken Baden-Württemberg zu einem Vorreiter in Sachen nachhaltiger und hochwertiger Gesundheitsversorgung entwickeln. Um dies zu erreichen, setzt der Verein insbesondere auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz.
Mithilfe der Digitalisierung sollte ein vernetztes, lernendes Ökosystem der Wissen generierenden Versorgung für die Bevölkerung und alle weiteren Versorgungsstrukturen in Baden-Württemberg etabliert werden. Dafür galt es etwa, eine durchgängig digital und souverän gestaltete Interaktion der handelnden Akteure mit den Patientinnen und Patienten aufzubauen, einschließlich der digitalen Dokumentation in Echtzeit. Zudem können sämtliche Behandlungspfade - und damit die Best Practices der universitären Medizin - an den Universitätskliniken in Baden-Württemberg analysiert, gelehrt und allen Leistungserbringern und Patienten mittels Webportalen oder Apps zur Verfügung gestellt werden.
Gleichzeitig führte die Digitalisierung zu einem nachhaltigen Paradigmenwechsel. Modern Workplaces mit einem ausgeweiteten Self-Service-Angebot für die Beschäftigten und multimedialer Kommunikation machten die Arbeitsplätze attraktiver, klima- und familienfreundlicher. Selbst im medizinischen Kernbereich hielten mobiles Arbeiten, virtuelle Boards, digitales Besuchermanagement, Videosprechstunden oder digitale Präanamnesen Einzug und veränderten Arbeitsweisen und Mindset. In Verbindung mit neuartigen Ansätzen zur Qualitätssicherung sowie aufkommenden Big-Data- und KI-basierten Ansätzen wurde es so möglich, Patienten mit höherer Qualität bei niedrigeren Kosten zu versorgen.
So ist 4U auch in den Augen der Jury des CIO des Jahres ein herausragendes Beispiel dafür, wie die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen aussehen kann: Patientenzentriert, sicher und interoperabel. Lob für das Projekt gab es auch von politischer Seite, etwa von Ministerpräsident Winfried Kretschmann: "Durch diese Bündelung von Kräften erreichen wir mehr Resilienz im Gesundheitssektor, eine bessere Versorgung für die Bürgerinnen und Bürger, mehr Innovationen bei großen Zukunftsthemen, und das Land gewinnt einen einheitlichen Ansprechpartner bei allen Gesundheitsthemen."
2020: Noch im Auge des Hurrikans
Doch bis es so weit war, wartete auf die IT-Verantwortlichen und Beschäftigten der Universitätskliniken erst einmal eine Herkulesaufgabe. "Mit Beginn der Pandemie im Jahr 2020 befanden sich die Uniklinika als Rückgrat der medizinischen Versorgung unverhofft im Auge des Hurrikans", berichtet 4U-Sprecher Michael Kraus, CIO am Universitätsklinikum Freiburg. Schnell zeigte sich, dass die althergebrachten Versorgungskonzepte nicht griffen und digital vernetzte Lösungen Mangelware waren.
Während andernorts angesichts der Krisensituation lange lamentiert wurde, spuckten die 4U in die Hände. Sie passten innerhalb weniger Monate ihre Digitalisierungspläne an die neuen Rahmenbedingungen an und brachten gemeinsam mit dem Land Baden-Württemberg ein einzigartiges Sofortprogramm an den Start. Eingebettet in eine standortübergreifende Prozess-, Daten- und Systemarchitektur sollten die Maßnahmen gezielt aufeinander abgestimmt die vier Handlungsfelder klinische Kernprozesse, Vernetzung, Infrastruktur und IT-Sicherheit adressieren. Dabei dauerte die Vorbereitungsphase etwa von Dezember 2020 bis Februar 2021. Das Projekt selbst läuft von April 2021 bis Dezember 2022, wobei bereits in allen Teilbereichen wesentliche Meilensteile erreicht wurden.
Das Projektportfolio selbst wurde durch den Lenkungskreis der 4U-CxOs gesteuert. Zu ihm gehören Michael Kraus (CIO in Freiburg), Lennart Jahnke (CDO in Freiburg), Oliver Reinhard (CIO in Heidelberg), Martin Jackisch (CIO in Tübingen), Martin Holderried (CMIO in Tübingen) sowie Robert Mahnke (CIO in Ulm). Bis August 2021 war auch Dietmar Schulz, damals noch als Chief Information Officer am Uniklinikum Tübingen, im Lenkungskreis mit an Bord. Er ist mittlerweile als CIO ans Robert Bosch Krankenhaus in Stuttgart gewechselt und gleichzeitig CMIO des Bosch Health Campus.
Um die digitale Transformation erfolgreich zu bewältigen und damit gleichzeitig einen Change-Beitrag seitens der IT zu liefern, setzte der Lenkungskreis auf echte Innovationsprojekte, verbunden mit einem kulturellen Wandel in der Belegschaft. Diese musste lernen, Kompetenzen in Projekten ihrer Fachdomänen auch an andere Standorte abzugeben - was anfangs vielen Mitarbeitenden schwerfiel.
Agenda für die Digitalisierung
Mit Blick auf die Ausrichtung an den gesundheitspolitischen Prozessen im Ländle und der Vision der Wissen generierenden Versorgung standen folgende Punkte auf der Agenda:
Digitalisierung der medizinischen Kernprozesse
Patient Empowerment
Standort- und sektorenübergreifende Vernetzung sowie Telematikinfrastruktur
Erneuerung und Ausbau der Infrastruktur
Stärkung der IT-Sicherheit
Aufbau hybrider Core-Dienste für Innovation und Translation (KI)
Innovations- und Translations-Hubs
Bestandteile des Projekts
In Sachen medizinische Kernprozesse wurde etwa eine standortübergreifende KI-basierte Spracherkennungsplattform eingeführt. Dies ermöglicht dem medizinischen Personal eine effizientere medizinische Dokumentation, sodass es mehr Zeit für die Patienten hat. Glaubt man einer Umfrage des Marburger Bunds, so verbringen fast 60 Prozent der Krankenhausärzte mindestens drei Stunden ihrer täglichen Arbeit mit bürokratischen Aufgaben. Dabei entlastet die Plattform nicht nur die Ärzte, sondern die Vereinheitlichung bringt ein großes Einsparungspotenzial bei den Lizenzen. Und nicht zuletzt ist sie ein Baustein für die Pilotierung des "intelligenten Behandlungsraums".
Ein weiteres Thema war eine Migrationsstrategie und langfristige Roadmap für SAP S/4HANA inklusive der SAP-gestützten Sekundär- und Tertiärprozesse. Dazu prüfte der Lenkungskreis, in welchen Anwendungsfeldern und in welchem Rahmen (öffentliche/private Cloud, Hybridmodelle) Cloud-Services eingesetzt werden können. Gleichzeitig wurden in die SAP-Systemlandschaft diverse Self-Services integriert und durch mobile Anwendungen, etwa für die Instandhaltung, ergänzt.
Im Rahmen des Projekts wurden zudem noch zwei Schwachstellen behoben, die die Pandemie offenbart hatte. So steckten die sichere Identifikation von Personen sowie die Integration von Apps noch in den Kinderschuhen. Hierzu wurde ein standardbasiertes, skalierbares ID- und API-Management aufgebaut. Mit ihm sollen Patientenportale, Apps und Cloud-Services aus dem Internet sicher und flexibel integriert werden, um Patienten und externe Partner einbinden zu können.
Ein weiterer wichtiger Bereich für die vier Universitäten ist die personalisierte Medizin. Sie erlaubt etwa in der Onkologie neue Behandlungsmethoden, führt aber gleichzeitig durch neue Informationsquellen wie Sensorik oder Internet of Medical Things (IoMT) zu einem immensen Datenwachstum. Schnell zeigte sich, dass mit den bislang isolierten Datensilos der 4U diese Daten nicht erschlossen werden konnten.
Deshalb wurde die Storage-Architektur mit dem UK-BW-Storage-Grid (UK-BW = Universitätsklinika Baden-Württemberg) um ein standortübergreifendes Grid erweitert, das als S3-Speicher (Simple Storage Service, Dienst von Amazon Web Services) vielfältig genutzt werden kann. Im Zusammenhang mit IoMT prüfen die vier Unis angesichts der gestiegenen Anforderungen an die Ortung von Personen und Geräten zudem, ob sich 5G einführen lässt. Darüber wird am Point of Care das WLAN kontinuierlich ausgebaut.
Security kann Spaß machen
Neben der Kür, die medizinische Versorgung mit Hilfe der Digitalisierung zu verbessern, sahen sich die IT-Verantwortlichen noch mit einer Pflicht konfrontiert: Der IT-Sicherheit der 4Us als Bestandteil der kritischen Infrastruktur. Hierzu bauen die Kooperationspartner das Risikomanagement aus, erproben gemeinsame SOC-Strukturen und haben regelmäßige Penetrationstests etabliert. Gleichzeitig wurden alle Mitarbeitenden mit Sensibilisierungskampagnen in Sachen Security trainiert. Dass IT-Sicherheit auch Spaß machen kann, zeigt das Beispiel "dr-nope.de" - ein ansprechend gestaltetes Security-Online-Training der 4U in amüsantem Retrodesign.
Die Jury vergibt den 1. Platz im Public Sector
Unterm Strich gelang es den vier Universitätsklinika aus Baden-Württemberg, ein Zukunftsmodell für die digitale Gesundheitsversorgung aufzubauen. Dazu gehören noch weitere Projekte, beispielsweise eine digitale OP-Logistik, hochdigitalisierte Klinikneubauten, digital unterstützte Intensivstationen, Corona-Befundportale und Dashboards.
Die Gemeinschaftsbewerbung der sieben IT-Manager beim CIO des Jahres 2022 überzeugte die Juroren auf voller Linie: Dafür erhielten sie den 1. Platz in der Kategorie Public Sector. Die Jury lobt: "Ein tolles Vorhaben! Der Gesundheitssektor stand in den letzten Jahren im Rampenlicht und hat gezeigt, dass durch kluge Digitlaisierungsvorhaben eine Mehrwert für alle entstehen kann. 4U BW ist hierbei ein herausragendes Beispiel, wie Digitalisierung der Zukunft im deutschen Gesundheitswesen aussehen kann." (jd/kf)