Dass die Digitalisierung das Leben der Menschen im privaten wie im beruflichen Umfeld massiv verändert, bestreitet heute kaum noch jemand. "Wir treten in eine Phase der Umbrüche ein, die komplexe Veränderungen in allen Bereichen bedeutet, denen sich sowohl die Politik und die Wirtschaft als auch die BürgerInnen stellen müssen", sagt Hannes Schwaderer, Präsident der Initiative D21. Technologische Weiterentwicklungen würden sich in immer schneller und disruptiver auswirken. "Anpassungsfähigkeit und Komplexitätsbewältigung in der digitalen Welt werden daher mehr denn je zur Kernkompetenz", folgert Schwaderer.
Doch das scheint immer mehr Menschen zu überfordern. So nehmen Unsicherheit, Zweifel und Skepsis über die mit der Digitalisierung verbundenen Folgen weiter zu. Die digitale Spaltung innerhalb der Gesellschaft reißt weiter auf, die Folgen für den Klimaschutz sind nicht abzusehen und die Gefahren für unsere Demokratie werden größer. Auf all diese Herausforderungen scheint es nach wie vor keine passenden Antworten zu geben, lautet das ernüchternde Fazit der Initiative D21.
Für den aktuellen Digital-Index 2021/2022 wurden zwischen August 2020 und Juli vergangenen Jahres 18.243 Bürgerinnen und Bürgern ab 14 Jahren in Deutschland befragt. Mit über 2000 Menschen haben die Marktforscher darüber hinaus vertiefende Interviews geführt. Das Ziel: Die digitale Gesellschaft hierzulande besser zu verstehen und herauszufinden, wie die Deutschen die Digitalisierung im privaten wie im beruflichen Umfeld sehen und einschätzen. Dabei ging es um die Einstellung der Menschen zu digitalen Themen, ihren Zugang zum Internet und ihre Digitalkompetenzen.
Der D21-Digital-Index misst Jahr für Jahr, wie stark die deutsche Gesellschaft den digitalen Wandel adaptiert. Die dafür erhobene zentrale Kennzahl, der Digital-Index, liegt aktuell bei 63 von 100 möglichen Punkten, das sind drei Zähler mehr als im Vorjahr. Seit 2016 steigt der Digitalisierungsgrad merklich an, nachdem der Index in den Jahren 2013 bis 2015 bei knapp über 50 Zählern stagnierte.
Über sechs Millionen Offliner in Deutschland
Insgesamt sind 91 Prozent der Deutschen online, das sind drei Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Dieser Anteil steigt also kontinuierlich weiter an. Immer mehr Menschen nutzen das Internet auch mobil. Ihr Anteil steigt von 80 auf 82 Prozent. Nur noch neun Prozent der Befragten würden sich als "Offliner" bezeichnen. Damit haben allerdings immer noch 6,3 Millionen Menschen in Deutschland keinen Zugang zum Internet. Das sind in etwa so viele, wie die Städte Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main zusammen an Einwohnern zählen.
Nach wie vor ziehen sich auch tiefe Risse durch unsere digitale Gesellschaft. Während jüngere und gut ausgebildete Menschen hierzulande mit den steigenden Anforderungen des digitalen Wandels gut Schritt halten können, sind Ältere und weniger gut Ausgebildete digital abgehängt. Letztere rangieren mit einem Digitalisierungsgrad von 46 Punkten weit abgeschlagen hinter Bürgerinnen und Bürgern mit mittlerer Bildung (67 Punkte) und den Hochgebildeten mit einem Digital-Index von 74 Punkten.
Große Unterschiede zeigen sich auch beim Alter: Während die jüngeren Generationen Z, Y und X mit 75, 72 beziehungsweise 70 Indexpunkten einen hohen Digitalisierungsgrad aufweisen, steht die Generation der vor 1945 Geborenen mit gerade einmal 27 Punkten im digitalen Abseits. Babyboomer und die Nachkriegsgeneration weisen mit 58 beziehungsweise 51 Punkten mittlere Werte auf.
Kein Digital-Know-how - geringere Job-Chancen
Dabei bestreiten die wenigsten, dass digitale Kompetenzen immer wichtiger werden. Fast acht von zehn Befragten glauben, dass man ohne Grundkenntnisse der Digitalisierung kaum noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat. Viele empfinden das als eine Herausforderung. Insgesamt spürt gut jeder Vierte (27 Prozent) ständigen Druck, mit den Entwicklungen der Digitalisierung Schritt halten zu müssen.
Gleichzeitig beklagen viele die fehlenden Möglichkeiten, sich digitales Know-how anzueignen. 69 Prozent der Befragten bilden sich fort durch Ausprobieren, 65 Prozent holen sich Hilfe bei Familie, Bekannten oder Kolleginnen und Kollegen. Von einer flächendeckenden organisierten Weiterbildung kann keine Rede sein. Nur 16 Prozent erhalten bezahlte Fort- und Weiterbildungen durch ihre Brötchengeber. Auch die Schulen kommen schlecht weg. Gerade einmal ein Drittel der Interviewten sagt, dass Schulen ausreichende digitale Fähigkeiten vermitteln, um im internationalen Vergleich mithalten zu können.
Für den D21-Präsidenten ist das ein Warnsignal. "Wenn wir heute nicht massiv in die digitalen Kompetenzen unserer Bürgerinnen und Bürger investieren, werden wir als Wissensgesellschaft morgen nicht mehr konkurrenzfähig sein", mahnt Schwaderer. "Wir brauchen in Deutschland einen systematischen Kompetenzaufbau über die Ausbildung hinaus. Dafür sollte die neue Bundesregierung schnellstmöglich aktiv werden, messbare Ziele formulieren, gemeinsam mit der Wirtschaft und Bildungsträgern Programme auflegen und diese jährlich auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen."
Wie dringlich die digitale Weiterbildung ist, spiegelt sich auch in einer anderen Zahl wider. Insgesamt geben zwar 59 Prozent der Befragten an, persönlich von der Digitalisierung zu profitieren. Doch gerade Menschen mit einem niedrigeren Bildungsniveau glauben nicht daran. . Nur ein gutes Drittel sieht für sich selbst positive Effekte im digitalen Wandel. Dabei könnten gerade die schlechter Ausgebildeten von digitalen Innovationen profitieren. Die Autoren sprechen von einem "Innovativeness-Needs-Paradox". Dieses besagt, dass vor allem Gruppen, die besonders stark von Innovationen profitieren könnten, diese seltener nutzen.
Menschen brauchen digitale Verschnaufpause
Während die Digitalisierung und das Internet im Leben und Arbeiten vieler Menschen einen immer breiteren Raum einnimmt, fühlen sich zahlreiche Befragte zunehmend unter Druck gesetzt.. Der entsprechende Subindex ging wie schon in der vorangegangenen Umfrage um einen Prozentpunkt zurück und liegt aktuell bei 51 Zählern. Hier könnte sich der Wunsch nach einer "digitalen Verschnaufpause" abzeichnen, interpretieren die Studienverantwortlichen diesen Trend und sprechen von Anzeichen einer "digitalen Ermüdung".
Hinzu kommen die Angst vor Datenmissbrauch und ein Gefühl des Ausgeliefertseins. "Vielen Unternehmen, deren digitale Dienste und Anwendungen ich nutze, vertraue ich nicht wirklich", sagen 44 Prozent der Befragten. Fast der Hälfte bereitet es Sorgen, digitale Spuren im Netz zu hinterlassen. Ein gutes Viertel der Bevölkerung sieht darüber hinaus auch in Deutschland in der Digitalisierung eine Gefahr für die Demokratie.
In der Diskussion um den richtigen Weg der Pandemiebekämpfung sei dies besonders deutlich geworden, schreiben die Studienautoren. Das Spektrum reiche von der Aufwiegelung in Gruppen auf dem Messenger Telegram bis hin zur versuchten Erstürmung des Reichstags im August 2020 in Berlin. "Die gezielte Verbreitung von Desinformation - von manchen als 'Infodemie' bezeichnet - kennzeichnet diese Entwicklung", heißt es in der Studie. Die Autoren warnen, "was für eine destruktive Kraft in der Instrumentalisierung von sozialen Medien und Messenger-Diensten liegen kann". Besonders bedenklich dabei: Nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten traut sich zu, Fake-News zu erkennen, bei Menschen mit niedriger Bildung sieht sich sogar nur ein Drittel dazu in der Lage.
Digitalisierung und Nachhaltigkeit - es bleiben viele Fragezeichen
Auch an der Schnittstelle zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit, dem anderen großen Thema unserer Zeit, herrscht viel Unsicherheit - vor allem was die gegenseitigen Wechselwirkungen betrifft. Ein gutes Drittel (34 Prozent) der Bevölkerung glaubt, dass die Digitalisierung einen eher positiven Einfluss auf die Umwelt haben wird, ein weiteres gutes Drittel (35 Prozent) denkt, dass die negativen Auswirkungen überwiegen.
Den größten Hebel für ökologisch nachhaltigere Digitalisierung sehen jeweils 44 Prozent in effizienter arbeitenden Fabriken und einem intelligenter gesteuerten Energieverbrauch in Gebäuden. Zu den größten Risiken zählen die Befragten den anfallenden Elektroschrott (59 Prozent) sowie Umweltschäden bei der Rohstoffgewinnung für digitale Geräte.
Auf dem Weg zu einer umweltfreundlichen Digitalisierung setzen die Menschen in Deutschland vor allem auf den wissenschaftlichen Fortschritt und neue Technologien. Immerhin jeder Fünfte glaubt, dass der individuelle Beitrag durch ökologisch korrektes digitales Verhalten am meisten zur Schonung der Umwelt beitragen kann. Ob das gelingt, ist jedoch fraglich. Vor allem diejenigen, die nach eigener Meinung am stärksten von der Digitalisierung profitieren, sagen gleichzeitig, dass es ihnen schwerfallen würde, ihr digitales Verhalten zum Wohle der Umwelt zu ändern.
Blinder Fleck im Koalitionsvertrag
Bis sich die von Wirtschaftsminister Robert Habeck geforderte positive Wirkung der Digitalisierung für alle entfalten wird, bleibt also noch viel zu tun. Die D21-Verantwortlichen geben der neuen Bundesregierung drei Hausaufgaben mit:
So müsse der Bevölkerung in der Breite mehr digitale Kompetenz vermittelt werden, um die Menschen für Herausforderungen wie Desinformation, Arbeitsmarktveränderungen, Klimawandel oder digitale Spaltung zu wappnen. Dafür gelte es, konkrete messbare Ziele und ein Rahmenwerk zu erarbeiten. "Nur wenn Lücken identifiziert sind, können politische Maßnahmen sie zielgenau adressieren und schließen", heißt es in der Studie. "Dies ist derzeit ein blinder Fleck im Koalitionsvertrag."
Die Wechselwirkungen von Digitalisierung und ökologischer Nachhaltigkeit müssen klarer herausgearbeitet werden, lautet die zweite Forderung der Initiative D21. Es brauche Transparenz über den ökologischen Fußabdruck der digitalen Welt. "Solange hier eine Wissenslücke klafft, wird eine Akzeptanz für notwendige Maßnahmen in der Gesellschaft nicht erreicht werden können", warnen die Autoren.
Und schließlich fordert die D21 die Entwicklung eines politischen Zielbildes für eine resiliente Gesellschaft im Wandel. Es könne als Kompass für eine zukünftige Digitalstrategie der Bundesregierung dienen. Allerdings müsse dieses Zielbild kontinuierlich an die sich wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen angepasst werden. Es gehe darum zu erkennen, was künftig durch die digitale Transformation auf die Menschen zukomme und deren Adaptionsfähigkeit zu verbessern. Das Immunsystem der Gesellschaft gegenüber den Herausforderungen des digitalen Wandel müsse kontinuierlich gestärkt werden.