Home Schooling in Deutschland

Versetzung gefährdet!

03.06.2020
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
Was viele Familien derzeit jeden Tag zu spüren bekommen, ist durch die Unternehmensberatung BearingPoint nun belegt worden: Deutschlands Schulen und Lehrer sind auf digitales Lernen schlecht vorbereitet, viele Familien allerdings auch.
Home Schooling in Deutschland: Versetzung gefährdet!
Home Schooling in Deutschland: Versetzung gefährdet!
Foto: Sam Wordley - shutterstock.com

Beim Home Schooling werden Familien oft allein gelassen. Den Schulen fehlt es an digitalen Konzepten und der richtigen IT-Ausrüstung. Eltern müssen vieles auffangen, sind dabei aber oft überfordert. In ihrer aktuellen Studie "Home Schooling - die Chance für das digitale Bildungswesen" trägt die Management- und Technologieberatung BearingPoint die Fakten zusammen, die Eltern schulpflichtiger Kinder derzeit jeden Tag hautnah erleben. Online- und Videounterricht scheitern an der notwendigen IT-Ausstattung in den Schulen, an den hierfür nicht ausgebildeten Lehrern und auch an fehlender Hardware- und Softwareausstattung in den Haushalten der Schüler.

Die Berater fragten vom 17. bis 27. April 2020 insgesamt 526 Eltern schulpflichtiger Kinder. Außerdem zogen sie weitere Quellen und Stellungnahmen heran. Dabei zeigt sich, dass den Erziehungsberechtigten das Hin- und Herschicken von Arbeitsblättern und Lösungen - oft auch noch in verschiedenen Textformaten - zu wenig ist. Viele vermissen einen fächerübergreifenden, abgestimmten Wochenplan und die Nutzung virtueller Klassenzimmer.

Deutschland ist ein Home-Schooling-Entwicklungsland

Ein Drittel der Eltern pocht zudem auf mehr Video- und Online-Unterricht für ihre Kinder, was aber oft an fehlendem Equipment und unzureichender Ausbildung der Lehrkräfte scheitert. Also werden die Erziehungsberechtigten in eine Mittlerrolle gedrängt, die sie zusätzlich zur Arbeitssituation im Homeoffice belastet. Darüber klagen 49 Prozent. Nur in rund einem Drittel der Fälle werden die Unterlagen direkt an die Schüler geschickt.

Wichtigstes Kommunikationsmedium ist der E-Mail-Serienbrief an die Eltern (60 Prozent), gefolgt vom Elternportal der Schule (26 Prozent). Durchschnittlich investieren die Eltern 7,4 Stunden pro Woche in das Home Schooling ihrer Kinder, wobei es Unterschiede zwischen Primarschule (10,2 Stunden) und Sekundarschule (5,8 Stunden) gibt. Am schwersten haben es die Mütter jüngerer Kinder, wie kürzlich auch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW) gezeigt hat.

Jon Abele, Leiter Government und Public Sector bei BearingPoint, sieht Deutschland beim digitalen Lernen als "Entwicklungsland". Es müsse dringend fortlaufend in pädagogische, digitale Lernmethoden und eine moderne IT-Grundausstattung investiert werden. "Hybrides Lernen muss zum neuen Standard werden", fordert Abele.

Deutschlands Bildungssystem hat in puncto Digitalisierung noch deutlichen Nachholbedarf.
Deutschlands Bildungssystem hat in puncto Digitalisierung noch deutlichen Nachholbedarf.
Foto: BearingPoint

Home Schooling ohne Lerninhalte

In über 40 Prozent kommen die Lehrer mit ihren via Home Schooling übermittelten Lerninhalte nicht bei den Schülern an. Mit etwas Glück übernehmen dann die Eltern den Job der Lehrer - oder die Kinder müssen sich selbst helfen. Wenn es gelingt, Lerninhalte zu vermitteln, dann passiert das per E-Mail (34 Prozent), am Telefon, als Audiodatei, durch einen Verweis auf ein Buch oder in Papierform auf dem klassischen Postweg (23 Prozent). Fast 60 Prozent der Eltern wünschen sich hier deutlich mehr Unterstützung von den jeweiligen Lehrern.

Die Studie zeigt auch, dass es den Haushalten oft an den nötigen Endgeräten fehlt, was zu einer Ungleichheit bei den Lernbedingungen führt. Lernunterlagen müssen häufig ausgedruckt werden, doch 40 Prozent der Haushalte haben keinen Drucker. Immerhin 62 Prozent der Kinder können daheim auf ein Smartphone, 55 Prozent auf ein Notebook sowie 47 Prozent auf ein Tablet zugreifen. Nur jedes vierte Kind hat Zugang zu einem klassischen Desktop-PC. Überhaupt keine Ausstattung haben knapp 6 Prozent. In gut 85 Prozent der Haushalte ist ein stabiles und leistungsfähiges Internet vorhanden.

BearingPoint zieht eine andere Untersuchung heran, die Auskunft über die digitale Ausstattung der Schulen in Deutschland gibt. Demnach kommt die International Computer and Information Literacy Studie (ICILS) von 2018 zu dem Schluss, dass gerade einmal 26 Prozent der Schulen in Deutschland einen WLAN-Zugang hatten. Der internationale Durchschnitt lag bei fast 65 Prozent.

Home-Schooling-Hürden in Deutschland

Als großes Problem stellen sich nun Sparzwänge heraus: Nur drei Prozent der Schulen hierzulande statten ihre Lehrkräfte mit eigenen tragbaren digitalen Endgeräten aus. Zum Vergleich: International sind immerhin über 24 Prozent der Lehrkräfte mit digitalen Endgeräten ausgestattet. Spitzenreiter sind hier skandinavische Länder, wie Dänemark mit über 91 Prozent und vor allem Finnland mit 100 Prozent.

BearingPoint hält die Probleme in Deutschland für lösbar, doch dazu müssten erst einmal die bisherigen Erfahrungen im Home Schooling systematisch erfasst und bewertet werden. Aus den Ergebnissen könnten pragmatische Standards und Richtlinien herausgegeben und den Schulleitern und Lehrern klare Handlungsanweisungen zur Umsetzung gegeben werden. Des Weiteren empfehlen die Berater, kollaboratives, soziales und individuelles Lernen auf Basis von virtuellen Videokonferenzen zu fördern - natürlich unter Berücksichtigung des Datenschutzgesetzes. Für Lehrer und Schüler müssten schnellsten die technischen Voraussetzungen für digitales Lernen geschaffen werden - etwa durch das Festlegen der benötigten IT-Grundausstattung und einem Angebot von Leihgeräten für Schüler.

Für den Schulalltag gelte es, neue Routinen festzulegen wie beispielsweise digitale Anwesenheitskontrollen, die Strukturierung des Schulalltags durch Online-Wochenpläne und das Herstellen von Transparenz über den Lernstand mithilfe digitaler Werkzeuge. Hier gelte es, das Potenzial von digitalen Kommunikations- und Lernplattformen besser auszuschöpfen.

Digitales Lernen als übergreifende Aufgabe

Im zweiten Schritt wird es politisch: BearingPoint empfiehlt das Definieren einheitlicher Kommunikationskanäle und zentral am Lehrplan ausgerichteter, digitaler Lehrinhalte. Dazu könnten die Länder mit einer zentralen, landesweiten Kommunikations- und Lernplattform für Lehrer, Schüler und gegebenenfalls Eltern erfolgen, die ständig weiterentwickelt und deren Qualität laufend gesichert wird. Die Berater empfehlen in diesem Zusammenhang die Kooperation unter den Bundesländern, damit das Rad nicht mehrfach erfunden werden müsse.

Zudem sollten die Erfahrungen, Best Practices und Anforderungen rund um den neuen Lernstandard nicht auf länder-, sondern auf nationaler und internationaler Ebene gebündelt werden. "Als Grundsatz sollte 'Technik folgt Pädagogik' gelten und nicht umgekehrt. Konzepte, wie das 'hybride' Lernen, das Präsenz- als auch Online-Unterricht abdeckt, könnten auf dieser Basis erarbeitet werden", heißt es in der Studie.

Laut BearingPoint ist auch eine verpflichtende Ausbildung für Lehrer und Bildungsträger notwendig. Die Verantwortlichen bräuchten sowohl ein digital-pädagogisches Gesamtkonzept als auch Kompetenz rund um 'hybrides' Lernen unter Nutzung von digitalen Lehrmethoden. Auch müsste Medienkompetenz und hybrides Lernen in den Lehrplan aufgenommen und Schülern ab der Primarstufe vermittelt werden.

Bund, Lehrer, Kommunen und Schulen müssten zusammenarbeiten, um sich über folgende Aspekte im Grundsatz einig zu werden:

  • pädagogisch-digitales Konzept,

  • digitale Medienkompetenz,

  • digitale Lehrinhalte (digitale Schulbücher, Erklärvideos, etc.),

  • digitale Lernzielkontrolle,

  • IT-Ausstattung und -Infrastruktur inklusive Datenschutz,

  • IT-Betrieb und -Support (inklusive Personalplanung),

  • die Qualifikation und kontinuierliche Weiterbildung von Lehrern sowie

  • Budgetierung und Controlling (Nutzung der Fördergelder aus dem Digitalpakt und anderer Fördergelder).