Das von Orange Belgien im Hafen von Antwerpen errichtete Netz ist das erste groß angelegte Standalone-5G-Netz (5G SA) in Belgien. Neben einer Bandbreite von 1,4 Gbit/s und einer Latenzzeit von 7 Millisekunden bietet es auch die Möglichkeit des Network Slicing, was das Netz für die Unternehmenskunden äußerst zuverlässig macht.
Um das Geschäftspotenzial des neuen 5G-Netzwerks zu erforschen, rief Orange Belgien Ende 2019 eine Test-Community mit mehreren großen Industrievertretern ins Leben. Ziel des "Industry 4.0 Campus" war es, Unternehmen wie BASF, Borealis oder Covestro mit Unterstützung von Deloitte Consulting das Potenzial von 5G in der Praxis entdecken zu lassen. Nach fast einem Jahr liegen nun erste konkrete Resultate vor.
Antwerpener Hafen: Vernetzte Schlepper
Die Betreiber des zweitgrößten Hafens Europas erkannten schnell das Potenzial von 5G für die Überwachung von Aktivitäten wie das Schleppen sehr großer Schiffe, die Hilfe beim Anlegen benötigen. Der Hafen verfügt dazu über kleine Schlepper, die paarweise operieren. "Einer ist vorne, der andere hinten platziert, und sie sehen sich nicht", schildert Erwin Verstraelen, Digital & Innovation Director beim Hafen Antwerpen, das Ausgangsproblem. Die Herausforderung bestand darin, die Sicherheit bei "sich bewegenden Objekten, die bei jedem Wetter funktionieren müssen", zu verbessern.
Zu diesem Zweck stattete die Antwerpener Hafenbehörde die Schlepper mit multidirektionalen PTZ-Kameras (Pan-Tilt-Zoom) aus, die sich automatisch ausrichten können, um der Bewegung zu folgen. Diese Kameras übertragen die Bilder dank 5G in Echtzeit, so dass der Kontrollraum die Manöver visuell und ohne zeitliche Verzögerung überwachen kann. Mit Hilfe dieser Bilder und anderer Echtzeitdaten (Radar, Sonar) kann der Antwerpener Hafen die Effizienz und Sicherheit des Schleppens von Schiffen durch den Hafen erhöhen und die Anzahl der täglich ein- und auslaufenden Schiffe erhöhen.
"Der nächste Schritt besteht darin, die Bilder von einem Schlepper zum anderen zu senden, damit sie sich leichter koordinieren können", verrät Verstraelen. Daneben habe man eine ganze Reihe anderer 5G-Anwendungen im Blick, wie zum Beispiel intelligente Kameras, Drohnen und autonome Schiffe sowie Lastwagen. "Es ist wichtig, diese Technologie jetzt als Unternehmen kennen zu lernen und sich schrittweise auf ihre Einführung vorzubereiten", so Verstraelen, denn das große Potenzial von 5G liegt in B2B-Anwendungen."
Covestro: Papierlos arbeiten auf dem gesamten Fabrikgelände
Der High-Tech-Polymer-Hersteller Covestro wiederum will das Potenzial von 5G nutzen, um seinen Mitarbeitern auf dem drei Kilometer langen neuen Fabrikgelände am Antwerpener Hafen einen Echtzeit-Zugang zu allen benötigten Informationen zu ermöglichen. Mit 5G könnten die Mitarbeiter der Anilinfabrik sämtliche Dokumentationen über die Anlagenausstattung über ihr Tablet oder ihre Smart Glasses abrufen, es wird kein Papier mehr auf dem Gelände oder im Büro benötigt.
Tritt dann ein unerwartetes Problem auf, erhält der Techniker über den Scan eines QR-Codes auf der defekten Maschine alle erforderlichen Dokumente bereitgestellt und 3D-Modelle oder Erklärvideos der zu wartenden Anlage werden via Augmented Reality auf dem Bildschirm eingeblendet. Beim Einsatz von Datenbrillen wären zudem die Hände frei zum Arbeiten. Reichen die verfügbaren Informationen nicht aus, können die Nutzer sogar Remote-Unterstützung anfordern.
"Wir möchten die Wartung in Zukunft so organisieren, dass ein Techniker vor Ort einen externen Experten über eine Kamera um Unterstützung bei seiner Arbeit bitten kann", erklärt Peter Verdonck, Venture Manager des Anilin-Erweiterungsprojekts bei Covestro.
Aus Sicht von Covestro verbessert ein solcher Zugang zu wichtigen Informationen die Arbeitsprozesse erheblich, und der Remote Support senkt die Notwendigkeit der physischen Präsenz von Experten in der Produktionsumgebung. "Wir waren erstaunt über die Stärke der 5G-Abdeckung in unseren Produktionsanlagen im Freien, sogar zwischen den Stahlkonstruktionen", berichtet Verdonck: "Wir sind davon überzeugt, dass 5G einen entscheidenden Wandel in unserer Branche bewirken wird."
Borealis: 5G als flexible LAN-Alternative
Auch der österreichische Kunststoffhersteller Borealis hat die strategisch günstige Lage des Antwerpener Hafens erkannt. In seinem dortigen Werk stellt Borealis Polyolefine her, ein Material, das unter anderem zur Isolierung von Elektrokabeln verwendet wird. Reinheit ist dabei oberstes Gebot, weshalb bei laufender Produktion vor Ort insgesamt sieben Qualitätskontrollen vorgenommen werden.
Neben der physischen Kontrolle werden auch Bilder der Materialproben aus dem OT-System in die Azure Cloud geschickt. Dort werden sie von einem Qualitätsprüfungssystem gecheckt, das mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz mögliche Verunreinigungen erkennen soll. Im Falle einer Fehlfunktion werden Bilder und Metadaten automatisch zur weiteren Untersuchung weitergeleitet.
Vor dem Start des Pilotprojekts wurde diese Analyse über ein kabelgestütztes Festnetz durchgeführt. Das stattdessen genutzte 5G-Netz habe sich jedoch als ebenso effizient und sicher erwiesen - und biete zudem mehr Flexibilität, berichtet Nathalie Rigouts, Head of IT Innovation bei Borealis.
Als nächsten Schritt prüft das Unternehmen die Möglichkeit, seine Produktion mit anderen Anwendungen in der Cloud zu verbinden. Dies bedeute eine sichere, effiziente, aber drahtlose Verbindung, ohne die Einschränkungen, die mit der Installation eines neuen Kabelnetzes verbunden seien, so Rigouts:"Mit 5G können wir große Datenmengen sehr schnell und sehr sicher übertragen, um eine qualitativ hochwertige Produktion zu gewährleisten."
BASF: 5G für die Notfallkommunikation - und mehr
Der Chemieriese BASF sah in dem Programm die Gelegenheit, 5G für die Notfallkommunikation an seinem Standort in Antwerpen zu testen. "Wartungstechniker, Bediener, medizinische und Feuerlösch-Teams, all diese Akteure müssen zuverlässig kommunizieren, wenn sie im Einsatz sind", erklärt Jan Smet, Head of Connectivity, Automation Security & Industrial Telecom bei BASF Antwerpen. Dazu benötige man eine sehr robuste Lösung mit großer Reichweite und einer Infrastruktur, die auch einer Explosion standhalten kann.
Bislang werden diese Anforderungen bei BASF mit einem Walkie-Talkie-System erfüllt, das mit einem TETRA-Funknetz verbunden ist. "So war eine eine grundlegende Kommunikation im Push-to-Talk-Verfahren möglich, was im industriellen Kontext eine echte Rettungsleine für unsere Mitarbeiter darstellt", betont Smet.
Das 5G-Netz im Hafen Antwerpen ermöglicht aber nicht nur eine geringe Latenzzeit, wie sie für unternehmenskritische Kommunikation benötigt wird, es bietet auch ein viel größeres Maß an Sicherheit und Zuverlässigkeit als frühere Generationen von Mobilfunknetzen. "Was für uns ebenfalls von Interesse ist, ist die Fähigkeit von 5G-Netzen, den wesentlichen Verkehr vom nicht wesentlichen Verkehr zu trennen", so Smet: "Das System muss unter allen Bedingungen funktionieren."
5G erlaubt BASF außerdem, die "Ein-Gerät"-Strategie umzusetzen: Robuste 5G-Smartphones könnten sowohl die missionskritische Kommunikation (Push-to-X) sowie andere Smartphone-Anwendungen sicherstellen. Hierzu zählen etwa Videostreaming oder Geolokalisierung. BASF plant außerdem, die 5G-Fähigkeiten zu nutzen, um standortbezogene Sicherheitsanwendungen und qualitativ hochwertige Echtzeitbilder zu implementieren. Angedacht sind Funktionen wie Geofencing, Videostreaming mit Body Cams oder die Anbindung tragbarer Gasdetektoren an die Übersicht des Dispatchers.
Wenngleich die Einführung noch nicht feststeht, hat BASF doch viele Lehren aus dem Experiment gezogen. "Ein 5G-Projekt im industriellen Kontext unterscheidet sich sehr von der persönlichen Nutzung", betont Smet. So seien viele Komponenten erforderlich, um aus dem Bereich heraus zu kommunizieren und mit Systemen in der Cloud zu interagieren. "Der Aufbau des Netzes erfordert echte Aufmerksamkeit, denn es muss auch dann betriebsbereit bleiben, wenn eine Antenne ausfällt", fügt er hinzu: "Schließlich geht nicht nur darum, Filme auf Netflix anschauen zu können, sondern darum, unsere Arbeit tun zu können."