Deutschlands Ruf in Sachen Digitalisierung ist nicht unbedingt der beste. Gerade während der Corona-Krise wurde immer wieder kritisiert, dass die Betriebe hier zu langsam vorankämem. Eine Kritik, die, so legen es die Zahlen einer aktuellen Bitkom-Studie nahe, zumindest nicht auf die deutsche Industrie zutrifft: Danach nutzen bereits 65 Prozent der Unternehmen Anwendungen für Industrie 4.0 und 25 Prozent planen den Einsatz - also insgesamt 90 Prozent. Vor Corona, im Jahr 2019, lag dieser Wert bei 74 Prozent. "Die Pandemie hat der deutschen Industrie einen dauerhaften Digitalisierungsschub gegeben", kommentierte Christina Raab, Bitkom-Präsidiumsmitglied und Vorsitzende der Geschäftsführung bei Accenture Deutschland, die Ergebnisse.
Mittelstand hinkt hinterher
Einen Vorsprung haben nach eigener Einschätzung die größeren Unternehmen. Über die Hälfte sieht sich in einer Vorreiterrolle, während das nur bei 30 Prozent der Mittelständler der Fall ist. 58 Prozent der kleineren Betriebe stufen sich dagegen als Nachzügler ein. Bei den Konzernen sind nur 37 Prozent ähnlich skeptisch. Komplett abgehängt fühlen sich nur sechs Prozent der Großunternehmen und acht Prozent der Mittelständler, also insgesamt recht wenige Firmen.
In der Studie "Industrie 4.0 - so digital sind Deutschlands Fabriken" befragte Bitkom Research von Anfang März bis Mitte April rund 550 Industrie-Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten. Mit Blick auf das Leitthema "Digitalisierung und Nachhaltigkeit" der diesjährigen Hannover Messe wurde, so Raab, "auch abgefragt, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die Nachhaltigkeitsziele in Deutschland hat".
"Durch eine konsequente Digitalisierung kann die deutsche Industrie sich zwei dringlichen Herausforderungen zugleich stellen: Digitalisierung macht die Unternehmen nachhaltiger und wettbewerbsfähiger", machte Raab der deutschen Wirtschaft Mut. So sind 81 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass Digitalisierung und Industrie 4.0 zu einer nachhaltigeren Produktion beitragen. Zudem halten 91 Prozent Industrie 4.0 für unverzichtbar, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.
Konkret sollen sich dank digitaler Industrie bis 2030 in der Fertigung 64 Megatonnen CO2 einsparen lassen - vorausgesetzt, dass Digitalisierungsprojekte beschleunigt vorangterieben werden. Das sind 17 Prozent der insgesamt geplanten CO2-Einsparungen im Rahmen des Klimaziels 2030. Verläuft die Digitalisierung mit der bisherigen Geschwindigkeit weiter, errechnet der Bitkom ein Einsparungspotenzial von 37 Megatonnen CO2. Im Detail kann der Einsatz von digitalen Zwillingen, also die Simulation und Optimierung von physikalischen Produkten oder Prozessen, 33 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Weitere 31 Millionen Tonnen können durch verstärkte Automatisierung in der Produktion vermieden werden, indem digitale Technologien manuelle Eingriffe und den Materialeinsatz reduzieren sowie Prozesse optimieren.
Die Rolle der digitalen Marktplätze
Geht es um die bei der Digitalisierung genutzten Anwendungen und Technologien, so hat sich laut Bitkom gezeigt, dass während der Pandemie die digitale Interaktion sowohl mit Konsumenten als auch im B2B-Geschäft signifikant zugenommen hat. So nutzt die Hälfte der befragten Unternehmen bereits digitale Marktplätze. Und in den nächsten zwölf Monaten werden wohl zwei Drittel der Firmen auf digitalen Marktplätzen aktiv werden. "Sie sind deswegen für Industrie 4.0 wichtig, weil sie auch das Eingangstor für die Digitalisierung von Produkten und die Interaktion mit den Kunden darstellen", interpretierte Raab die Ergebnisse.
Weitere wesentliche Themen im Zusammenhang mit Industrie 4.0 sind für die Unternehmen neben Digitalen Zwillingen mittlerweile Künstliche Intelligenz, IoT-Plattformen, Virtual und Augmented Reality (VR/AR) sowie 5G-Mobilfunk. VR/AR ist bereits in 31 Prozent der Unternehmen im Einsatz, 19 Prozent planen dies und 16 Prozent diskutieren darüber. Der Mobilfunkstandard 5G wird in 29 Prozent der Unternehmen genutzt und ist in weiteren 21 Prozent geplant. Bei genauso vielen (21 Prozent) steht der Einsatz noch ergebnisoffen zur Debatte.
KI auf dem Vormarsch
Zu den Schlüsseltechnologien der Digitalisierung zählt für viele Betriebe Künstliche Intelligenz. Fast vier von zehn Unternehmen nutzen KI bereits und 35 Prozent planen oder diskutieren ihren Einsatz. Für jedes vierte Unternehmen ist KI aber noch immer kein Thema. Wird KI genutzt, dann meist zur Automatisierung von Produktionsprozessen (66 Prozent). Kaum weniger (64 Prozent) verwenden künstliche intelligenz für die Datenanalyse bei der Prozessüberwachung, und 35 Prozent nutzen beide Einsatzmöglichkeiten.
Das größte Hemmnis beim Einsatz von KI sehen 42 Prozent aller Industrieunternehmen in der ungenügenden Datengrundlage. Zudem erscheint 40 Prozent der Befragten der Aufwand zu hoch, insbesondere für die Implementierung. 36 Prozent beklagen fehlende Standards und 32 Prozent hindert der Zertifizierungsprozess. Gut jedes vierte Unternehmen gibt ethische Gründe als Hürde beim Einsatz von KI an.
Bedeutung Digitaler Zwillinge wächst
Eine besonders wichtige Technologie sind auch Digitale Zwillinge, die inzwischen von jedem dritten Unternehmen eingesetzt werden. Ein weiteres Fünftel plant die Nutzung und 16 Prozent diskutieren noch darüber. "Es handelt sich um digitale Kopien von Objekten der realen Welt", erklärte Raab. Produkte, Produktionsanlagen und auch ganze Fabriken ließen sich digital abbilden. "Dank Digitaler Zwillinge können Herstellungs- und Wartungsprozesse massiv beschleunigt und im alltäglichen Einsatz fortlaufend optimiert werden", so die Bitkom-Repräsentantin. Die Bedeutung werde mittelfristig weiter zunehmen.
Eine große Mehrheit der Unternehmen (82 Prozent) ist denn auch der Meinung, dass der Einsatz Digitaler Zwillinge in den kommenden fünf Jahren ansteigen wird. Nur 17 Prozent gehen davon aus, dass sich die Relevanz nicht verändern wird. Kein einziges der befragten Unternehmen nimmt an, dass Digitale Zwillinge künftig keine große Rolle spielen werden. Dennoch ist für drei von zehn Unternehmen der Einsatz derzeit kein Thema. Ähnlich wie bei der KI haben viele Unternehmen (51 Prozent) nicht genügend Daten zur Verfügung, um Digitale Zwillinge einzusetzen. Aus Sicht von 38 Prozent fehlen Standards und für 23 Prozent ist die Wirtschaftlichkeit nicht einschätzbar.
IoT-Plattformen, mit denen Daten, Produkte, Maschinen oder Prozesse vernetzt werden können, setzen 35 Prozent der produzierenden Unternehmen ein und fast genauso viele (30 Prozent) planen dies. Für lediglich 14 Prozent sind IoT-Plattformen kein Thema, bei 19 Prozent steht der Einsatz bislang nur zur Diskussion. Fast jedes zweite Unternehmen sieht die größten Potenziale beim so genannten Remote Monitoring - also der Fernüberwachung von Maschinen und Anlagen.
Ebenso viele erhoffen sich Echtzeit-Einblicke in die Herstellungsprozesse. 42 Prozent setzen auf die Beschleunigung von Prozessen und 39 Prozent sehen Potenzial in Sachen Predictive Maintenance. IoT-Plattformen helfen nach Meinung etlicher Umfrageteilnehmer auch beim Erreichen übergeordneter betrieblicher Ziele wie der Umsatzsteigerung (40 Prozent), der Qualitätsverbesserung (36 Prozent) und der Kostensenkung (31 Prozent).
Der digitale Wandel der Industrie hat auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. So glauben 71 Prozent der Unternehmen, dass im Zuge von Industrie 4.0 neue Arbeitsplätze für gut ausgebildete Fachkräfte entstehen. Und auch in einem anderen Punkt hat sich die Einschätzung der Unternehmen geändert. Waren 2021 noch 68 Prozent überzeugt, dass mit der Digitalisierung Arbeitsplätze für gering qualifiziertes Personal wegfallen würden, so fürchten das in diesem Jahr nur noch 61 Prozent. Für diese Entwicklung gibt es zwei Erklärungsansätze: Zum einen kämpft noch immer die Hälfte der Befragten mit dem Fachkräftemangel, zum anderen ermöglichen es neue Technologien wie etwa Datenbrillen, auch geringer qualifizierte Arbeitskräfte unter Remote-Anleitung von höherqualifizierten Kollegen für komplexe Aufgaben einzusetzen.
Hemmschuhe bei der Digitalisierung
Geht es um die Frage, warum Digitalisierungsprojekte schleppend oder gar nicht vorangetrieben werden, so nennen 81 Prozent fehlende finanzielle Mittel. Zwei Drittel empfindet zudem den - aus Sicht der Befragten - überzogenen Datenschutz als Hemmnis. 61 Prozent identifizieren die hohen Anforderungen an die IT-Sicherheit als Problem, und für 58 Prozent ist das Thema insgesamt zu komplex.
Angesichts dieser Ergebnisse verwundert es nicht, dass steuerliche Unterstützungsmaßnahmen für digitale Vorhaben ganz oben auf dem Wunschzettel der Unternehmen stehen. 84 Prozent fordern solche finanziellen Impulse, um Investitionen in Industrie 4.0 anschieben zu können. Mit 82 Prozent wünschen sich ähnlich viele mehr Rechtssicherheit beim Datenaustausch mit anderen Unternehmen. Im Bildungsbereich setzen 59 Prozent auf bessere Weiterbildungsangebote und die Integration von Industrie-4.0-Themen in Ausbildung und Studium. 55 Prozent wünschen mehr Programme zur Aus- und Weiterbildung von Fachkräften rund um Industrie 4.0 und etwa genauso viele (54 Prozent) mehr Informations- und Beratungsangebote für Unternehmen.
Zumindest in Sachen Know-how will der Bitkom den Betrieben weiterhelfen. Sein "Industrie-4.0-Digitalisierungsradar" soll relevante Technologien und Einsatzfelder rings um die Digitalisierung aufzeigen sowie das Potenzial dahinter erklären.