Dass KI eben kein Zeitgeistphänomen ist, war Bestandteil meines letzten Beitrags. Heute geht es einen Schritt weiter: Denn was derzeit in der IT passiert, ist ein Umbruch, der vergleichbar ist mit dem Beginn der Industrialisierung oder dem Siegeszug des Internets – nur eben nochmal eine Größenordnung schneller. Gerade die Entwicklung rund um das World Wide Web in den 1990er-Jahren weist eine gewisse direkte Analogie auf: Die Möglichkeiten überholen die Unternehmen und die Menschen. Das Dilemma dabei ist, dass Tatenlosigkeit keine Option ist, dass aber andererseits das Fällen von Entscheidungen oft schwer fällt. Es fehlt schlicht an der soliden Basis – die Anzahl der Unbekannten und die Geschwindigkeit der Ausbreitung neuer technologischer Möglichkeiten sind so hoch wie wohl noch nie zuvor in der Geschichte der modernen Wirtschaft.
Ein Gedankenspiel soll das verdeutlichen: Wer als Mensch 30 normale, gleich große Schritte macht, legt eine Strecke von ca. 30 Metern zurück; wer die Schrittlänge nach jedem einzelnen Schritt verdoppelt, hat nach 30 Schritten annähernd 30mal den Erdball umrundet! Das Konstrukt basiert natürlich auf der Legende um die Erfindung des Schachspiels – und diese zeigt eben, wie schwer es dem menschlichen Geist fällt, die Auswirkungen von Exponentialfunktionen zu fassen. Die Erfindung der Mathematik ist ein Hilfsvehikel, aber die wirkliche Bedeutung vorzustellen, vermag uns kaum zu gelingen. Die große Frage: Können siebeneinhalb Milliarden Menschen, die die Exponentialfunktionen nicht wirklich begreifen, mit einer sich exponentiell verändernden Welt umgehen oder nicht?
Vom Schach über IoT zum IoIT
Zurück zur IT. Mit der Verbreitung der Möglichkeiten von Smartphones, Cloud, AI & Co. sind wir ja in einer solchen Innovations-Exponentialkurve, vermutlich an deren Knie. Der Anstieg ist derzeit erstaunlich steil. Man denke nur an Software, die sich in wenigen Tagen beibringt, besser „Go“ zu spielen als alle anderen Spieler zuvor – inklusive ihrer eigenen Vorgänger-Software. Forscher von der University of Columbia haben in einem Arbeitspapier neuronale Netze beschrieben, die letztlich Software ermöglichen, die sich selbst verbessert und optimiert. Eine weitere Frage sei erlaubt: Haben Sie bereits einen Business Plan oder eine Idee, wie solche Fähigkeiten in Ihrem Unternehmen nutzbar zu verwerten sind?
Nun der Schwenk zum Internet der Dinge: Beim IoT gab und gibt es viele Proof of Concepts sowie Tests, doch „die Killerapplikation“ haben viele für sich noch nicht gefunden. Mit weiter steigender Rechenleistung der Chips und der zunehmenden Verbreitung von AI sind nun jedoch Anwendungsszenarien möglich, die noch vor 24 Monaten in weiter Ferne lagen. Denn der entscheidende Unterschied zu damals ist: Aus dem IoT ist inwischen ein IoIT geworden, ein Internet of Intelligent Things. Denn während das „alte“ Paradigma sich auf schlichte Sensoren, die Übermittlung von Daten und deren Prozessierung in der Cloud bezieht, bedeutet IoIT, dass die Intelligenz in die Ränder wandert: Edge Computing wird schon seit einiger Zeit propagiert, war aber bisher doch nur eine Verlagerung der tatsächlichen Rechenleistung weg von den zentralen (Cloud-) Rechenzentren. Nun, da Komponenten auch wirkliche Intelligenz enthalten können, werden sie zum Treiber und essentiellen Bestandteil der Dezentralisierung. Exponentielle Entwicklungen, Sie erinnern sich…
Wird nun noch die allgegenwärtige Forderung ständiger Verfügbarkeit von Services berücksichtigt, ist der Schritt zum Ubiquitous Computing nurmehr ein kleiner. Das aktuelle Application-Modell wird sich ohnehin ändern bzw. ändert sich schon heute. Wer diesen Gedanken zu Ende führt, landet beim omnipräsenten Rechennetz, von der Cloud bis zur Intelligent Edge. Ein solches Modell ist „Distributed“, „Event Driven“ und „Serverless“. Unabhängig vom Anbieter ist die Cloud damit der Kern eines Weltcomputers, der durch besagtes Rechennetz entsteht. Ein solch allumfassendes System verfügt natürlich auch über die wie oben dargestellten enormen KI-Fähigkeiten. Damit ist die Basis für künftige Geschäftsmodelle geschaffen – und für den Weg, wie wir unser Leben in Zukunft leben, gestalten und sogar genießen werden.
Neue Anwendungen will die Welt
Verkürzt: Das Geschäftsmodell wird mehr denn je auch das Gesellschaftsmodell beeinflussen. Wer gedanklich einen Schritt zur Seite macht, wird die Wucht dieser neuen Welt bereits erkennen. Wo bis vor wenigen Jahren noch die Stoppuhr, vielleicht neoromantisch an einer eher frühen Digitaluhr, die Zeit der Jogging-Runden maß, ist es heute standardmäßig eine Smartwatch. Diese misst natürlich auch den Puls und weitere Kardio-Parameter. Per GPS lassen sich Streckenprofile optimieren; mit dem Wind im Rücken läuft es sich leichter bergauf. Selbstlernende Devices werden schon bald persönliche Vorlieben erkennen und intelligenter als die Nutzer das perfekte Training erarbeiten können. Es sei an die Go-Software erinnert… Schon feilt Apple daran, zum führenden Anbieter für persönliche Gesundheit aufzusteigen, indem die neue Smartwatch zum persönlichen Health Assistant wird – der Leben retten und verlängern soll.
Die Liste der Möglichkeiten geht weiter. Warum nicht einmal nach vollbrachtem Tagwerk einer Geschäftsreise die Zeit im Hotel nutzen und einen Ausflug per Virtual Reality in den Regenwald machen – klimafreundlich, ohne stundenlangen Flug und ohne Mosquitos. Umgebungsgeräusche und ein Laufband mit angepasster Steigung vervollständigen meine persönliche, auf mich abgestimmte Illusion. Wer genug vom Regenwald hat, wechselt eben an den Strand – oder erlebt seine eigene Folge von Star Trek und fühlt sich auf einmal im Holo Deck angekommen. Und der Sonntagsspaziergang mit Tante Inge klappt auch ohne lange Autofahrt, denn die Menschen und Devices sind keine Inseln. Sie interagieren miteinander. All das funktioniert jedoch nur in einem integrativen Ansatz, der Intelligenz an die Ränder und direkt zu den Usern bringt.
Von der Vision zur Realität
Was heute vielleicht noch ein wenig so aussieht, als läge es in weiter Ferne, vermag schon bald Realität zu sein. Wer hätte vor zehn, 15 Jahren schon die Bedeutung erahnen können, die Smartphones heute haben? Entscheidend ist die Pluralität der Daten. Letztlich werden die Nutzer einen zentralen Beitrag für ihre Erlebnisse liefern. Die intelligenten Devices werden direkt in ihrer Umgebung eine nie dagewesene User Experience eröffnen, unterstützt von den mächtigen Cloud-Umgebungen, und das alles miteinander nahtlos interagierend.
In der Verbindung mit IoIT ergeben sich neue Analysemöglichkeiten und Business-Modelle, gerade wenn keine breitbandige Datenübertragung möglich ist. Das alles wird selbstredend nicht nur das Privatleben der Menschen ändern – auch das berufliche Umfeld wird den bereits eingeleiteten Wandel fortführen. Für die Unternehmen bedeutet das große Marktpotenziale. Die Technologie wird zur Nebensache – es geht mehr denn je darum, den richtigen Einsatzzweck zu finden. Die Uhr an sich ist nicht wichtig – ich möchte wissen, wie spät es ist. Und eine neue Zeitrechnung hat begonnen.