Cloud-Strategie und mehr

SAP und Daimler: CEO und CIO im Gespräch

19.12.2012
Von 
Christoph Witte arbeitet als Publizist, Sprecher und Berater. 2009 gründete er mit Wittcomm eine Agentur für IT /Publishing/Kommunikation. Dort bündelt er seine Aktivitäten als Autor, Blogger, Sprecher, PR- und Kommunikationsberater. Witte hat zwei Bücher zu strategischen IT-Themen veröffentlicht und schreibt regelmäßig Beiträge für die IT- und Wirtschaftspresse. Davor arbeitete er als Chefredakteur und Herausgeber für die Computerwoche. Außerdem ist Witte Mitbegründer des CIO Magazins, als dessen Herausgeber er bis 2006 ebenfalls fungierte.
Wir haben Michael Gorriz, den CIO von Daimler, mit Jim Hagemann Snabe, einen der beiden CEOs von SAP, zusammengeführt. Die Themen waren Cloud, Mobile und Big Data - und nicht zuletzt die Frage, was "Partnerschaft" eigentlich bedeutet.

CW: Herr Gorriz, zur Vorbereitung dieses Gesprächs haben wir uns über potenzielle Themen ausgetauscht. Eins davon war die Co-Existenz von Public Cloud und Enterprise IT. Was interessiert Sie daran in Zusammenhang mit der SAP?

Gorriz: Wir wollen in zehn Jahren 30 Prozent unserer Anwendungsfälle aus der Cloud beziehen. Dazu müssen wir die Cloud in unsere Lösungsarchitektur einbauen. Die Frage lautet deswegen, wie wir die Vorteile der Cloud mit denen der On-Premises-Lösungen verbinden? Dazu brauche ich einen Partner, der uns dabei sinnvoll unterstützt.

CW: Die von Herrn Gorriz genannten 30 Prozent scheinen über einen Horizont von zehn Jahren etwas mager, oder?

„Nichtstrategische Aufgaben wandern zuerst in die Cloud.“ Jim Hagemann Snabe, SAP
„Nichtstrategische Aufgaben wandern zuerst in die Cloud.“ Jim Hagemann Snabe, SAP
Foto: SAP

Snabe: Wenn wir die jetzigen Funktionen betrachten, halte ich diese Zahl für nicht falsch, behaupte aber, dass durch neue Themen, die wir heute überhaupt noch nicht bearbeiten, die Cloud-Services enorm zunehmen werden. Das heißt, der Kuchen der IT-Services wird insgesamt viel größer und das Verhältnis wird eher bei 50 zu 50 liegen in zehn Jahren. Nehmen Sie zum Beispiel Sentiment-Analysen, die wir über verschiedene soziale Medien und das Web ausführen. Das machen wir von Anfang an in der Cloud. Ein anderes Beispiel ist die Vernetzung zwischen Unternehmen, wie wir sie über Ariba (ein B2B-Commerce Netzwerk, Anm. d. Red.) anbieten. Das kann man nur über die Cloud realisieren.

Gorriz: Der Einfluss der IT dehnt sich natürlich aus. Als ich die 70-zu-30-Losung ausgab, habe ich die neuen Themen nicht berücksichtigt. Aber auch wenn man die außer Acht lässt, sind 30 Prozent sehr viel. Sie müssen bedenken, dass wir nur sechs Prozent der Anwendungslandschaft pro Jahr überhaupt verändern. So gesehen müsste ich bis zum Jahr 2022 die Hälfte meines Veränderungsbudgets in die Cloud investieren, um diese 30 Prozent zu erreichen. Heute bringe ich allerdings nur einen sehr viel geringeren Beitrag für die Cloud auf. Da sich die Cloud-Entwicklung aber beschleunigen wird, steigt der Anteil in den kommenden Jahren kräftig an.

Snabe: Das bestätigen auch unsere Zahlen. Cloud ist die bei weitem am schnellsten wachsende Kategorie.

CW: Woher resultiert das Wachstum - aus den Legacy-Applikationen, die in die Cloud wandern, oder aus den neuen Themen?

Snabe: Ich sehe beides. Unternehmen werden die wettbewerbsrelevanten Themen und Prozesse weiterhin selbst beherrschen und nicht teilen wollen. Dann aber gibt es die, wie ich es nennen möchte, so genannten Randthemen. Hier geht es nicht um Konkurrenzvorteile, sondern eher um Effizienzgewinne, und diese wandern zurzeit am schnellsten in die Cloud. Das sind beispielsweise bestimmte HR-Prozesse wie das Finden neuer Talente oder eben nicht-strategische Einkaufsprozesse.

Viele dieser Dinge erledigen die Unternehmen auf ähnliche Weise. Deshalb können sie das sehr gut teilen. Das gilt übrigens auch für bestimmte Bereiche im CRM.

CW: Kann man Commodity hier als Synonym für Effizienz verwenden?

Snabe: Ja. Dabei betrachtet allerdings fast jedes Unternehmen etwas anderes als Commodity. Das bedeutet für uns eine hohe Komplexität. Manche Versicherungen etwa sehen die Schadensabwicklung als Effizienzprozess, den sie im Sinne von Preisvorteilen auch auslagern können. Andere benutzen die Schadensregulierung dagegen als strategisches Mittel der Kundenbindung. Deshalb sehen sie in ihr einen Kernprozess. Konsequenterweise muss die SAP flexibel genug sein, ihren Kunden Lösungen im Cloud- und im On-Premise-Modell anzubieten, so dass die Kunden für sich entscheiden können, was ein Kern- oder ein Randprozess ist. Und die Integration der beiden Welten liefern wir selbstverständlich auch mit.

„Wir wollen die individuelle Kundenbetreuung über digitale Kanäle ermöglichen.“ Michael Gorriz, Daimler
„Wir wollen die individuelle Kundenbetreuung über digitale Kanäle ermöglichen.“ Michael Gorriz, Daimler
Foto: Daimler

Gorriz: Bleiben wir noch einen Moment bei der Schadensregulierung. Wir wollen unseren Kunden natürlich eine Schadensregulierung in unseren Vertragswerkstätten anbieten, als Bestandteil eines Rund-um-sorglos-Servicepakets. Deshalb benötigen wir in diesem Fall sicher Teile des Standardprozesses aus der Cloud. Aber andere Teile des gesamten Prozesses, etwa die weitere Betreuung des Kunden, sehen wir als Kernprozess, den wir lieber selbst gestalten wollen und daher on premise erledigen.

CW: Könnte Daimler einen Standard-Cloud-Prozess nutzen und ihn mit eigenen Bestandteilen anreichern, die on premise entwickelt und betrieben werden?

Gorriz: Das ist das Ziel.

Cloud lebt von den Skaleneffekten

CW: Bleibt dann die SAP-Effizienz nicht auf der Strecke, wenn Sie beides anbieten müssen? Das Mehr an Integrationsarbeit bedeutet doch, dass Ihr Geschäft kleinteiliger und damit weniger profitabel wird.

Snabe: Zunächst möchte ich sagen, dass wir bei SAP eine Skalierbarkeit wie kaum ein anderer in der Branche bieten. Um in der Cloud Geld verdienen zu können, braucht man möglichst viele Kunden, die auf derselben Infrastruktur arbeiten. Das können wir sehr gut. Weil wir sowohl die Cloud- und On-premise-Lösung schon gebaut haben, müssen wir die Integration nur einmal erledigen. Wenn das von zwei verschiedenen Anbietern käme, müsste jeder Kunde die Integration individuell erarbeiten.

Gorriz: Integration existiert in zwei Facetten: Die Cloud-to-Cloud- und die Cloud-to-On-Premise-Integration. Das wird letztendlich über den künftigen Verbreitungsgrad der Cloud entscheiden. Heute unterstützen Cloud-Services in der Regel einen isolierten Geschäftsprozess, die Integration in die restliche Prozesswelt ist meistens dünn. Das reicht vielleicht aus für E-Mail, Calendering oder einige Bereiche von CRM. Doch wenn man eine komplette Verkaufsabwicklung integrieren will, wird’s spannend. Das verlangt eine tiefgehende Integration in bestehende Datenstrukturen. Da reichen leichtgewichtige Interfaces nicht mehr aus.

CW: Herr Gorriz, kann die SAP schon mehr als leichtgewichtige Integration?

Gorriz: Ich bin nicht die Marketingstimme der SAP. Aber wir arbeiten mit dem Unternehmen ja deshalb zusammen, weil es unsere Auffassung von Integration teilt. Die SAP liefert das Thema nach und nach in verwertbaren Lösungen an uns aus. Ich nehme unser ERP-System als Ausgangspunkt, in dem rund 98 Prozent meiner Daten liegen. Dieses System möchte ich mit den Cloud-Vorteilen kombinieren, die es uns ermöglichen, mehr auf den Kunden gerichtete IT zu entwickeln. Bevor Kunden einen unserer Showrooms besuchen oder eines unserer Fahrzeuge Probe fahren konfigurieren sie ihr Wunschauto am PC. Bei 80 Prozent unserer Fahrzeugverkäufe läuft diese Ereigniskette so ab.

Deshalb dürfen nur Fahrzeuge konfigurierbar sein, die in den verschiedenen Märkten auch gebaut werden können. Schon von daher ist eine Integration zwischen Cloud basiertem Car Configurator und den on premise betriebenen Produktionssteuerungssystemen unabdingbar. Das ist bereits realisiert. In den nächsten Schritten geht es darum, die individuelle Kundenbetreuung über digitale Kanäle zu ermöglichen. Dadurch erweitert sich die Einflusssphäre der IT noch einmal enorm. Unsere internen Prozesse werden zu nahezu 100 Prozent mit IT unterstützt. Einige laufen komplett automatisch ab. Der nächste Schritt zielt darauf ab, auch den gesamten Kundenzyklus möglichst so zu unterstützen, wie wir das bereits heute mit den internen Prozessen tun. Das geht nur über die Cloud, dazu reicht unsere Enterprise IT bei weitem nicht aus.

CW: Sie haben es früher schon einmal gesagt: Bei Daimler soll die IT die digitale Schnittstelle zum Kunden bilden. Kann Ihnen dabei ein Hersteller helfen?

Gorriz: Wir müssen natürlich selbst wissen, was wir wollen. Wir spezifizieren die Dinge, die wir mit dem Kunden machen wollen. Dabei geht es darum, Daten- und Funktionsstrukturen so zu ordnen, dass auf sie schnell zugegriffen werden kann. Außerdem muss das Ganze dann in einer heterogenen Prozesslandschaft untergebracht werden. Und ich traue der SAP zu, dass wir das zusammen in einer Gesamtlösung realisieren können.

Snabe: Wir hören unseren Kunden genau zu. Unser nächster Schritt wird sein, die neuen Technologien Cloud, Mobile, Predictive Analytics, In Memory Computing und Backend-Technologien miteinander zu verbinden. So können wir dem Kunden eine Menge Komplexität abnehmen. Wir haben auf unserer letzten Kunden-Messe in Madrid im November die erste von diesen neuen Lösungen vorgestellt, die in diese Richtung gehen: SAP 360 Customer. Auf diese Weise ermöglichen wir Unternehmen, eine 360-Grad-Betrachtung ihrer Kunden. Das wiederum gibt ihnen die Chance, ihre Kunden viel gezielter mit individualisierten Produkten und Services anzusprechen. Das ganze machen wir im Prinzip für jede Branche. Die Automotive-tickt natürlich anders als etwa die Bankenwelt.

Partnerschaft oder der "Partner schafft"

CW: Sie beide bezeichnen Ihre Beziehung als Partnerschaft und nicht als eine Lieferanten-Kunden-Beziehung. Sie entwickeln gemeinsam und Daimler hat in einigen Bereichen keine anderen Lieferanten mehr als SAP. Das macht abhängig. Wie regeln Sie in einer solchen Beziehung die Preisfindung?

Gorriz: Wir haben 1998 bereits die Entscheidung getroffen, im ERP-Bereich im Wesentlichen mit SAP zusammenzuarbeiten. Und natürlich weiß Herr Snabe, dass wir diese Entscheidung nicht rückgängig machen können, selbst wenn er mich ab und zu mit seinen Preisverhandlungen quält. In den letzten 15 Jahren haben wir es immer geschafft, faire Lösungen zu finden, die den Mehrwert teilweise bei uns lassen, und der SAP angemessene Verdienstchancen eröffnet. Wir haben gemeinsame Lösungen entwickelt, die SAP heute teilweise auch an andere verkauft.

Damit sind wir einverstanden, weil es unsere Kosten senkt, aber uns gleichzeitig den Innovationsvorsprung gesichert hat, weil wir eben vorn dran waren. Ein Erfolgsbeispiel ist die Fahrzeugstückliste. Dieses Modell haben wir gemeinsam entwickelt und inzwischen benutzen es viele andere Autohersteller ebenfalls. Ähnliches erhoffen wir uns im Bereich Spare-Parts-Management. Da stehen wir jetzt kurz vor dem unternehmensweiten Rollout und werden damit sicher auch andere überzeugen können. Kurz: Wir lernen in dieser Beziehung ständig dazu und sind sicher, dass wir sie auch in Zukunft für beide Seiten erfolgreich gestalten können.

Snabe: Wir haben dabei auch viel gelernt. Wir hatten ja eine Phase, in der wir diese Beziehungen zu den Kunden zu stark ausgenutzt haben - das betraf vor allem die Enterprise-Support-Geschichte. Ich bin jetzt seit 20 Jahren bei SAP und habe damals wirklich gelernt, dass man das Vertrauen der Kunden nicht überstrapazieren darf. Das Wort "Partnerschaft" kann im Deutschen missverstanden werden als "der Partner schafft". Deshalb ist mir manchmal die englische Bezeichnung "partnership" lieber. Damit wird sofort klar, das beide im gleichen Boot sitzen und die gleichen Ziele verfolgen müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen.