Anwendungsszenarien

Mit KI gegen die Pandemie

11.05.2020
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen helfen, Hotspots zu entdecken, Medikamente zu entwickeln und die Dokumentenflut in Krankhäusern einzudämmen – aber auch Menschen zu überwachen und Überlebenschancen zu berechnen.

In der Bewältigung der Coronakrise spielen KI-Anwendungen eine wichtige Rolle, ihr Potenzial ist aber noch längst nicht ausgereizt. Fortschritte werden in der Regel dort erzielt, wo Teams auf interdisziplinäre Zusammenarbeit setzen: IT-Spezialisten ziehen mit Medizinern, Epidemiologen, Behörden und der Healthcare-Wirtschaft an einem Strang.

Künstliche Intelligenz kann im Kampf gegen Pandemien wie COVID-19 eine entscheidende Rolle spielen. Ihr Einsatz wirft allerdings zahlreiche ethische und rechtliche Fragen auf.
Künstliche Intelligenz kann im Kampf gegen Pandemien wie COVID-19 eine entscheidende Rolle spielen. Ihr Einsatz wirft allerdings zahlreiche ethische und rechtliche Fragen auf.
Foto: panuwat phimpha - shutterstock.com

"KI bietet ein veritables Waffenarsenal im Kampf gegen COVID-19", sagt Erick Brethenoux, Research Vice President bei Gartner. "Sie erlaubt es, Vorhersagen über die Verbreitung des Virus zu treffen, Krankheitsfälle schneller und genauer zu diagnostizieren, die Effektivität von Gegenmaßnahmen zu prüfen und die Ressourcen für eine Notfallbehandlung optimal einzusetzen."

Umstrittenes Corona-Tracking

Am offensichtlichsten, sicher aber auch datenschutzrechtlich am umstrittensten ist die Nutzung KI-basierter Systeme für die Nachverfolgung von Infizierten sowie die Kontrolle von Menschen, die sich in Zeiten des Lock-downs an Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote halten müssen. Anhand von GPS-Daten und in manchen Ländern auch über videobasierte Systeme für die Gesichtserkennung und mithilfe von Drohnen lassen sich die Bewegungsmuster der Bürger relativ genau nachzeichnen.

Auch in Deutschland wäre es sicher möglich, Infektionsquellen frühzeitig zu entdecken, Menschen mit Symptomen aufzuspüren und gezielt zu testen oder Betroffene zügig in Quarantäne zu schicken. Hier ist aber der Konjunktiv angebracht, haben doch die deutschen Diskussionen um die Corona-Tracing-App und den Immunitätsausweis eindrücklich gezeigt, dass nicht alles, was technisch möglich ist, auch gesellschaftlich akzeptiert wird.

Künstliche Intelligenz schützt Risikogruppen

Dass der Einsatz von KI aber helfen kann, beispielsweise Risikogruppen zu identifizieren und zu beschützen, zeigt das Medical Home Network unweit von Chicago. Zusammen mit CloseLoop.ai hat die Non-Profit-Organisation den "COVID-19 Vulnerability Index" entwickelt. Chief Medical Officer Art Jones schreibt in einem Statement: "Wir wollen die sozial Isolierten identifizieren sowie Menschen, um die sich gerade keine Freunde oder Verwandten kümmern können. Damit sind unsere Versorgungsteams frühzeitig in der Lage zu helfen, Sicherheitshinweise zu geben und das zuständige medizinische Personal der angeschlossenen Behörden und Krankenhäuser gezielt zu unterstützen."

Wie Gartner ausführt, haben im Zuge des bisherigen Pandemieverlaufs in einigen Ländern auch KI-basierte Systeme für Telemedizin und Selbstdiagnose sowie virtuelle Gesundheitsassistenten Zulauf erfahren. Sie können den Menschen in Zeiten unzureichender ärztlicher Versorgung helfen festzustellen, ob sie infiziert sind und was die geeigneten nächsten Schritte wären.

"Es ist bekannt, dass KI das menschliche Urteilsvermögen in besonders komplizierten Fällen unterstützen und die Genauigkeit von Diagnosen verbessern kann", erinnert Gartners Research Director Pieter den Hamer. Prognosen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen zur Krankheitsentwicklung bei Patienten könnten die Behandlung optimieren. Hier zeigten sich vor allem dann Vorteile, wenn medizinische Fachkräfte knapp würden.

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KI ermittelt Überlebenschancen

Die Frage ist allerdings, ob zu viel Information über den Verlauf einer potenziell tödlichen Krankheit nicht auch kontraproduktiv sein kann. Ein Beispiel aus China zeigt, wohin der KI-Einsatz in der Diagnose führen kann. Dort wurde eine Technologie entwickelt, die Ärzten hilft einzuschätzen, wie die Überlebenschancen schwer kranker COVID-19-Patienten sind. Verschiedenen Berichten zufolge sind Forscher an der Huazhong University of Science and Technology (HUST) sowie des Tongji Hospital in Wuhan in der Lage, mithilfe eine KI-Diagnosetools in kurzer Zeit Blutproben auszuwerten und daraus Überlebenschancen zu errechnen.

Die Forscher sagen, sie hätten in einem Test mit 404 Patienten die Sterberaten mit einer 90-prozentigen Genauigkeit herausgefunden. Die Blutproben seien jeweils am Tag der Ankunft im Tongji Hospital entnommen worden. Die Studienergebnisse, die bei Medrxiv.org veröffentlicht wurden, zeigen, dass der verantwortliche Professor Yuan Ye, Experte für KI und Automatisierung an der HUST, die Genauigkeit des Systems mit zunehmender Datenbasis weiter zu verbessern hofft.

Die Chinesen hoffen aufgrund dieser Erkenntnisse Patienten priorisiert behandeln und die Sterberate insgesamt senken zu können. Wer aber die Bilder überlasteter Intensivstationen und die Diskussionen über die "Triage" vor Augen hat, braucht nicht viel Phantasie, um sich vorstellen zu können, dass die Todgeweihten wahrscheinlich nicht dieselbe Behandlung bekommen werden wie Patienten mit besseren Überlebenschancen. Andererseits wäre es sicher auch nützlich, Krankheitsverläufe dank technischer Unterstützung exakt zu prognostizieren: Mehr Patienten könnten dann zu Hause behandelt werden, die Belastung der Krankenhäuser würde sinken.

KI-Bots im Krankenhaus

Andere KI-Anwendungen zur Bewältigung der Coronakrise sind ethisch weitaus weniger fragwürdig. Sie könnten beispielsweise helfen, den Betrieb der krisenbedingt überlasteten Gesundheitsbehörden und Krankenhäuser zu rationalisieren. Als Beispiel mag der RPA-Spezialist (RPA = Robotic Process Automation) Automation Anywhere dienen, der Krankenhäuser mit seiner Lösung "IQ-Bot" dabei helfen will, die im Zusammenhang mit der Pandemie auftretende Dokumentenflut zu bewältigen. Der Hersteller hat zu diesem Zweck seine RPA-Lösung mit verschiedenen KI-Technologien erweitert, um das Krankenauspersonal dabei zu unterstützen, automatisiert Informationen aus Patientenformularen, Aufzeichnungen des Gesundheitswesens, Fallakten oder Versicherungsdokumenten zu extrahieren.

Andere KI-Systeme unterstützen CIOs in organisatorischen Fragen. Sie helfen etwa, die Personal- und Schichteinteilung in Kliniken zu verbessern, indem sie Patientenzahlen und wahrscheinliche Krankheitsverläufe berechnen und dem medizinischen Personal knappe Materialien wie Kleidung und Mundschutz sowie Beatmungsgeräte bedarfsgerecht und priorisiert zuteilen.

Big Data spürt COVID-Hotspots auf

Nützlich sind auch Anwendungen für das Monitoring der COVID-19-Ausbreitung, das Identifizieren von Hotspots und das Beobachten der fortschreitenden Herdenimmunität. In den Frühphasen einer Pandemie, in der das Abflachen der Infektionskurve und damit die Entlastung der Krankenhäuser und ärztlichen Einrichtungen höchste Priorität hat, sind solche Fähigkeiten besonders relevant. Sie können aber auch später benötigt werden, falls das Virus ein zweites Mal ausbrechen sollte.

Beispielhaft agiert hier das kanadische Health-Monitoring-Unternehmen BlueDot, das die Welt schon am 31. Dezember 2019 vor dem Ausbruch warnte - neun Tage, bevor die Weltgesundheitsorganisation WHO soweit war. BlueDot arbeitet mit Massendaten aus Tausenden von Quellen, die mithilfe von Natural Language Processing (NLP) und maschinellem Lernen gefiltert werden.

Zum Datenbestand gehören Angaben von offiziellen Gesundheitsorganisationen, digitale Medien, weltweit verfügbare Informationen zum Flugverkehr, Berichte zur Tiergesundheit oder auch demographische Daten. Dank KI-Algorithmen werden diese Daten sehr schnell ausgewertet. Epidemiologen, Ärzte und Wissenschaftler von BlueDot prüfen die Daten, bewerten die Ergebnisse und fertigen Berichte für ihre Kunden an: Krankenhäuser und Behörden, keine privaten Unternehmen.

Im Fall von COVID-19 konnte BlueDot nicht nur besonders früh eine Warnung aussenden, sondern anhand von ausgewerteten Flugtickets auch gleich die Städte benennen, die in engem Kontakt zum chinesischen Hotspot Wuhan standen und damit besonders gefährdet waren. Das Unternehmen identifizierte Bangkok, Hongkong, Tokio, Taipeh, Phuket, Seoul und Singapur als die Städte, in die die meisten Passagiere von Wuhan aus geflogen waren. Tatsächlich gehörten diese Städte zu den ersten, in denen sich das Virus ausbreiten konnte. Die WHO war später dran, da sie auf Daten aus Wuhan angewiesen war, die aber zu Beginn der Pandemie nur zögerlich herausgegeben wurden.

Anders als BlueDot bezieht HealthMap, ein von der Harvard Medical School und dem Boston Children's Hospital unterstütztes Projekt, neben vielen weiteren Quellen auch Social-Web-Daten zur Analyse heran. Laut John Brownstein, Chief Innovation Officer der Harvard Medical School, liegt die große Herausforderung in der Harmonisierung und Bereinigung der Daten: Wie lässt sich ein zuverlässiger, weltweiter Datensatz über das Virus und seine Ausbreitung erstellen, wenn die nationalen Datensätze und Metriken unterschiedlich sind? Viele Filtermechanismen und etliche Trainingsläufe für die Systeme seien notwendig, damit trotz unterschiedlicher Datenstrukturen und Taxonomien, Sprachen und kulturellen Kontexten sinnvolle Ergebnisse herauskämen.

Einem Bericht von Tech Republic zufolge entwickelt auch das auf Healthcare-Analytics spezialisierte Softwarehaus Cotiviti eine Lösung, um mithilfe einer Vielzahl von Datenquellen, neue Ausbrüche regional vorherzusagen. Cotiviti verarbeitet dazu in seiner "Caspian-Insights-Plattform" Hunderte von Datenquellen, darunter Informationen über Patienten-Screening, neue ärztliche Erkenntnisse und Geodaten, um Trends zu identifizieren.

CEO Emad Rizk sieht das größte Risiko in einer einseitigen oder unzureichenden Auswahl von Trainingsdaten: "Man muss aufpassen, dass die Algorithmen kein zu kleines Datenfenster nutzen. Es ist ein riesiger Unterschied, ob man mit nur zwei oder drei Datenelementen Rückschlüsse ziehen will oder mit 100." Auf der Basis seiner Caspian-Plattform hat Cotiviti kürzlich seinen "COVID-19 Outbreak Tracker" präsentiert. Auf einer interaktiven Karte werden wöchentlich Vorhersagen über versteckte Hotspots beziehungsweise zu erwartende Ausbruchsregionen veröffentlicht.

Die Daten, mit denen das System gefüttert wird, reichen von medizinischen Informationen wie etwa Röntgenbildern, Zulauf auf Intensivstationen, CPT-Codes, ICD-9-Codes und vielem mehr. "Wir schauen nicht nur auf bestätigte Fälle, sondern auch alle Verdachtsmomente. So können wir die Fahne heben und sagen: Dieser Bezirk sieht merkwürdig aus", sagt Rizk.

Anfang März hatte Cotiviti auf diese Weise ungefähr zwei Dutzend US-Bundesstaaten erfasst und datentechnisch bearbeitet. Binnen zwei Wochen entwickelten sich 80 Prozent der vorhergesagten Hotspots zu tatsächlichen Ausbruchsgebieten, so das Unternehmen. Seitdem habe man den Algorithmus und die Datenbasis in hohem Tempo weiterentwickelt und komme bereits auf eine Genauigkeit von 91 Prozent.

Das liege unter anderem daran, dass immer neues klinisches Datenmaterial zur Verfügung stehe und so das Modell immer besser werde. Zukünftig könnten die Daten auch dazu herangezogen werden, normale Grippeepidemien von neuen Ausbrüchen des Coronavirus zu unterscheiden. Außerdem könne das System in der Phase der Lockerung eine wichtige Rolle spielen, wenn es gelte, ganze Regionen zu überwachen und kleinste Veränderungen sofort zu entdecken, um Gegenmaßnahmen einzuleiten.

KI-Support für die Medizinforschung

KI-Lösungen sind ebenfalls ein wichtiges Hilfsmittel, wenn es gilt Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln. Gemeinsam mit dem Oak Ridge National Laboratory arbeitet beispielsweise IBM mit seinem Supercomputer "Summit" daran, erfolgversprechende chemische Verbindungen für die Behandlung einer Covid-19-Erkrankung zu identifizieren. Einem Bericht von Ars Electronica zufolge prüfen auch KI-Forscher an der Johannes Kepler Universität in Linz medizinische Wirkstoffe auf ihre Wirksamkeit.

Auch nutzen Ärzte Bildmaterial aus der Computertomographie, um Lungenentzündungen zu erkennen, die durch das Virus verursacht wurden. Der niederländische Radiologe Erik R. Ranschaert etwa ist dabei, einen Algorithmus mit CT-Bildern zu trainieren, um Infektionen erkennen und Lungenschädigungen besser einschätzen zu können. Auch Siemens Healthineers glaubt an das Verfahren und hat zusammen mit Wissenschaftlern aus aller Welt einen KI-Algorithmus entwickelt, mit dem es möglich sein soll, Auffälligkeiten in CT-Aufnahmen aufzuspüren. Dass hierzu in Ärztekreisen unterschiedliche Meinungen vorherrschen, zeigt allerdings dieser Beitrag in MedicalNewsToday.

Unbestritten wichtig für das Training von KI-Systemen ist indes die Verfügbarkeit von Daten. Hier hat sich das Allen Institute for AI mit seinem "COVID-19 Open Research Dataset" verdient gemacht, Amazon Web Services hat dazu bereits Analysefunktionen bereitgestellt, die auf maschinellem Lernen basieren. Das Allen Institute for AI stellt über 29.000 Fachartikel ksotenlos für die Wissenschaft zur Verfügung, alle beschäftigen sich mit Covid-19 oder den Corona-Viren generell. Der Datenbestand wird jede Woche aktualisiert, indem Quellen und Archivdienste wie bioRxiv oder medRxiv gescannt werden.

Corona - eine Chance für die IT

CIOs und CDOs im Gesundheitswesen sollten nach Ansicht von Gartner die Möglichkeiten der KI zur Bekämpfung von COVID-19 ausschöpfen und die geeigneten Anwendungen mit hoher Priorität entwickeln oder anschaffen. Dabei gelte es, die enge Zusammenarbeit mit Fachleuten aus dem Gesundheitswesen zu suchen. Auch lohne es sich, über einen offenen Marktplatz nachzudenken, auf dem KI-Anwendungen und -Modelle sowie Daten transparent ausgetauscht werden könnten.