Der Fadenwurm ist ein wenig attraktiver Wurm, der so simpel gebaut ist, dass einige seiner Arten sogar stundenlang Temperaturen von rund minus 270 Grad in flüssigem Helium überleben können. Fadenwürmer verfügen über rund 20.000 Gene. Aber was, bitte schön, hat der Fadenwurm nun mit Nichtwissen zu tun?
Sie sind ein Mensch. So wie ich auch. Und ich glaube, wir sind uns schnell einig, dass wir uns selbst ein gerütteltes Maß an höherer Komplexität zuschreiben, als dem Stamm der Fadenwürmer. Indessen: Wir verfügen trotzdem nur über 22.000 Gene. Das sind gerade mal 10 Prozent mehr als diese unglaublich resistenten Würmer. Vollkommen verwirrt bleiben wir zurück, wenn wir jetzt noch betrachten, über wieviel Gene eine Maus verfügt, die vermutlich in der Komplexität irgendwo zwischen Fadenwürmern und uns Menschen steht: 23.000.
Somit stellt sich eine wichtige Frage: Wird die Komplexität eines Lebewesens tatsächlich durch seine Gene definiert? Die momentanen Vermutungen gehen in eine andere Richtung. Im Stil des DNA-Codes sind lächerliche 1,5 Prozent des menschlichen Genoms codiert. Die restlichen, erschlagenden 98,5 Prozent wurden bislang als Datenmüll betrachtet. Ein sehr besonderer Müll, der über Jahrmillionen mit nur geringfügigen Veränderungen weitergegeben wurde. Da stellen sich sofort zwei weitere wichtige Fragen:
Warum sollte es überhaupt derart erschlagend viel Müll im Genom geben?
Wenn dieser Müll so unwichtig ist, wieso gibt es dann dort kaum Mutationen?
Des Rätsels Lösung naht: In dem Müll werden mittlerweile Steuermoleküle vermutet, die auf bislang nicht verstandene Weise zu der eigentlichen Formen- und Artenvielfalt den wesentlichen Teil beitragen. Aus meiner Sicht eines Wissensmanagent-Laien ist diese Geschichte eine schöne Metapher für die vorschnelle Bewertung von Daten, scheinbare Sicherheiten, die in Sackgassen führen und die Entwertung von Nichtwissen. Und eine mangelnde individuelle Intuition in der Neubewertung und -interpretation von Wissenskonventionen.
Zu schnell in Antworten zu verfallen ist nicht immer hilfreich. Gute Antworten sind das Ergebnis noch besserer Fragen. Nichtwissen ist nicht einfach nur weg zu managen, weil es ein Defizit ist. Es kann schnell zur Ressource für bahnbrechende Innovationen werden. Aber nur, wenn es nicht sofort gestopft wird wie ein Loch in der Socke. Das zeigt auch folgendes spannendes Experiment.
- Die größten Innovationsfallen
Oft verpassen vermeintlich innovative Unternehmen die Marktentwicklung. Lesen Sie hier die gefährlichsten Innovationsfallen, in die Firmen tappen. - Die Hochglanzfalle
Wer sich Websites, Visionen und Hochglanzbroschüren der meisten Unternehmen genauer ansieht, stellt schnell Folgendes fest: Irgendwie sind sie alle visionär, hochkreativ und praktisch kurz davor, die Branche zu revolutionieren. Auf den ersten Blick liest sich das beeindruckend. Blickt man jedoch genauer hinter die Fassade der Homepages und Prospekte, dann haben diese Botschaften oft wenig Substanz. - Die Erfahrungsfalle
Insider, die auf den Management-Tagungen des ehemaligen Druckmaschinenherstellers Manroland waren, erinnern sich an die Botschaften des Vorstands. Er sagte der Zeitung eine große Zukunft voraus. Immer wieder wurde die Solidarität zur Druckrolle beschworen, während die meisten Medienverlage bereits ihr Wachstum auf ganz anderen Feldern suchten. Der Vorstand von Manroland ignorierte das. Die eigenen Erfahrungen sprachen dagegen. Für den damals zweitgrößten Druckmaschinenhersteller der Welt war es schlichtweg unvorstellbar, dass seine Produkte einmal überflüssig werden könnten. Das Ergebnis dieser Fehleinschätzung: Der Konzern wurde Anfang 2012 zerschlagen. - Die Trägheitsfalle
Prozessoptimierung, Kostenoptimierung, Lean Management: Das waren die Schlagwörter der 90er- und frühen 2000er-Jahre. Arbeitsabläufe wurden systematisch gescannt, jede überflüssige Handbewegung untersagt und jede Tätigkeit in genau definierte Prozessabläufe gezwängt. Das hat bis heute einen positiven Effekt: Unternehmen können das operative Geschäft viel schneller, besser und billiger als andere beherrschen. Die Kehrseite ist: Es bleibt kaum Zeit, über neue Wege nachzudenken. Anders gesagt: Man ist so sehr damit beschäftigt, den operativen Ergebnissen nachzujagen, dass man sich kaum fragt, ob dies noch sinnvoll ist. - Die Erfolgsfalle
Erfolg macht sexy. Erfolg fühlt sich gut an. Erfolg macht zufrieden. Genau das ist das Problem. In zahlreichen Firmen werden schnelle Erfolge belohnt. Ein kurzfristiges Plus der Verkaufszahlen, ein großer Deal, kurzfristige Erfolge bei der Neukundengewinnung. Gerade in Unternehmen, die vom Quartalsdenken geprägt sind, ist der schnelle Erfolg wichtiger als langfristiges Denken. Im Kern ist das nicht verkehrt, denn: die Summe vieler schneller Erfolge macht eine erfolgreiche Company aus - nur nicht unbedingt eine innovative. Solange schnelle Erfolge mit dem Bestehenden zu erzielen sind, hat das Neue kaum eine Chance, sich durchzusetzen. - Die Kannibalismusfalle
Unternehmen haben ständig Angst sich selbst zu kannibalisieren. Wenn die Konkurrenz angreift, ist das schlimm. Schlimmer ist es jedoch, wenn ein Unternehmen sich selbst Marktanteile wegnimmt. Aus diesem Grund weigerten sich die Elektronikhändler Saturn und Media Markt jahrelang, Online-Shops zu eröffnen. Die Kunden könnten schließlich via Internet und nicht mehr in den Läden einkaufen. Auch der Entertainment-Gigant Sony leidet unter dem Kannibalismusproblem. Um das eigene CD-Geschäft zu schützen, hat er die Entwicklung eines Download-Portals für Musik nur halbherzig vorangetrieben. Und der Fotohersteller Leica? Er vermied es Anfang der 90er Jahre tunlichst, in die digitale Fotografie einzusteigen - aus Angst, das eigene Geschäft mit analogen Apparaten zu gefährden.
Die Ahnungslosigkeit von echten Künstlern
Im Jahr 1976 veröffentlichten die beiden Kreativitätsforscher Jacob Getzels und Mihaly Csikszentmihalyi, der für sein Flow-Konzept bekannt wurde, ein äußerst interessantes Experiment über die Bedeutung von Nichtwissen als Ressource. Die beiden gingen in das Art Institute of Chicago und präsentierten den dortigen Kunststudenten diverse Gegenstände. Sie sollten sich einen oder mehrere heraussuchen und dann ein Stillleben malen. Manche der Studenten wählten nur ein oder zwei Gegenstände und begannen sofort mit dem Kunstwerk. Andere ließen sich mehr Zeit und schauten viele Gegenstände an. Ließen offensichtlich die Gegenstände auf sich wirken.
Der Hauptfokus bestand darin, herauszufinden, wie lange es dauert, bis auf der Leinwand ein Bild oder eine erkennbare Struktur zu sehen war. Interessanterweise war dies sehr unterschiedlich. Bei einigen Studenten war das bereits nach einigen Minuten der Fall, gerade so, als hätten sie bereits eine sehr klare Vorstellung von dem, was sie malen wollten. Bei anderen dauerte es bedeutend länger. Sie schienen die Fertigstellung innerhalb der vorgegebenen Zeit von maximal einer Stunde möglichst weit hinauszuzögern.
Die "schnellen" Studenten berichteten hinterher, dass sie gleich von Beginn an wussten, wie ihr Bild aussehen wird. Die "Langsamen" hingegen erzählten, dass sie lange nicht wussten, worauf ihre Arbeit hinausläuft.
So weit so gut. Na und, mögen Sie fragen. Richtig. Denn der Clou kommt erst jetzt: Ein großer Teil der "Wissenden" hatte nach Abschluss der Akademie als Künstler nicht oder nur mit mäßigem Erfolg gearbeitet. Die "Nichtwissenden" hingegen waren diejenigen, die deutlich mehr Erfolg hatten.
So lässt es sich als regelrechte Fähigkeit beschreiben, das Nichtwissen darüber, wie die Lösung aussehen wird, möglichst lange aufrecht zu erhalten. Auf diese Weise verfallen wir nicht in vorgebahnte Lösungen, sondern können wirklich kreativ und innovativ werden. Also überlegen Sie sich besser zweimal, ob Sie und Ihre Mitarbeiter möglichst umgehend in jeder Situation zu Wissenden werden sollen.
von Andreas Zeuch.
Wiley, Weinheim, 2010
262 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-527-50467-1
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Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag von CFOworld.de. (mhr)