Viele Erfindungen der Weltgeschichte hatten ihr Debut als Attraktion auf dem Jahrmarkt, IBM Watson im Frühjahr 2011 in der Fernsehquizshow Jeopardy. Aber wenn ein Unternehmen bereit ist, nach so kurzer Zeit eine Milliarde Dollar zu investieren und ein Heer von 1.000 Mitarbeitern dafür aufzustellen, dann steckt sicherlich mehr dahinter als eine moderne Jahrmarktattraktion. Tatsächlich geht es um Cognitive Computing und die aus dem DeepQA-Forschungsprojekt weiterentwickelte natürliche Sprachverarbeitung für gestellte Fragen, auch Natural Language Question Answering Systems genannt, einer der wichtigsten Wachstumstrends für Big Blue.
Watson-Ratgeber und die Preisfrage
Ein solches QA-System wurde 1971 schon recht erfolgreich bei der Auswertung der von einem Apollo-Flug zurückgebrachten Mondgesteinsproben eingesetzt. IBM hat es nicht erfunden, sieht sich aber seit Jahrzehnten an der Front bei der Entwicklung von Spracherkennungs- und intelligenter Software. "Diese wird nun in der Watson Group zusammengefasst", erklärt Vertriebsleiter Wolfgang Hildesheim, der die Watson Group in Europa mit aufbaut. Im Vordergrund steht ihm zufolge die Software. Die Diskussion um Supercomputer und Flops geht ihm dabei völlig an Watson vorbei. Denn Grundlage für den Einsatz von Advisor genannten analytischen Modulen ist eine Softwarelizenz für den Watson Explorer 10.0 Advanced Edition. Diese Lizenz wird sowohl als Teil eines Komplettsystems mit einem leistungsstarken Rechnerverbund angeboten als auch als Software as a Service (SaaS) über die Cloud, um von jedem Gerät von überall auf der Welt darauf zugreifen zu können. Gerade erst Mitte April hat IBM eine neue Watson Health Unit auf den Weg gebracht.
"Es gibt eine Reihe von Watson-Modulen. Bei den größeren Watson-Applikationen wie dem Watson Oncology Advisor oder dem Watson Wealth Management Advisor sind viele der Module miteinander kombiniert", schickt Hildesheim der im Internet diskutierten Preisfrage voraus. Bei den beiden zuletzt genannten Anwendungen sind inklusive der Anlernkosten und unabhängig von der Betriebsart (im eigenen Rechenzentrum oder als SasS) mehrere Millionen Euro zu veranschlagen, bei einfacher Wissensverwaltung mit "customized" Arbeitsplätzen und semantischen Funktionalitäten würde sich so ein System schon für einen sechsstelligen Betrag realisieren lassen.
Gesundheit ist ein wichtiges Thema für IBM
"Bedenkt man, dass Krebs eine der schwersten und teuersten Krankheiten auf unserem Planeten ist, dann ist der Watson Oncology Advisor zur Unterstützung klinischer Tests und zur Bewertung von Behandlungsmethoden gar nicht mal so teuer", unterstreicht der Europavertriebschef.
Wie im März 2015 bekanntgegeben, will Big Blue mit Watson helfen, die Gesundheitsdaten von iPhone- und Apple-Watch-Nutzern auszuwerten, um diese Daten dann Forschungseinrichtungen und Kliniken zur Verfügung zu anzubieten. Die Grundlage dafür hat Apple mit HealthKit und der Open-Source-Plattform ResearchKit gelegt. Auf deren Basis sollen Forschungseinrichtungen und Universitätskliniken zur Erhebung von Gesundheits- und Fitnessdaten jeweils eigene Apps entwickeln können.
"Wir wollen das analytische Gehirn hinter HealthKit und ResearchKit sein", wird IBM-Manager John E. Kelly in den Medien zitiert. Der Pharmazie- und Konsumgüterhersteller Johnson & Johnson wolle Watson als Coaching-System für Übungen nach Rückenoperationen oder Einsatz künstlicher Gelenke einsetzen. Der Medizintechnik-Hersteller Medtronic plant smarte Insulinpumpen, die dem Nutzer jeweils die richtige Dosis verabreichen, so das Hamburger Wochenmagazin Zeit unlängst.
Mehr Anwendungsbeispiele - auch für Otto-Normal-Verbraucher - ergeben sich aus einem anderen Bereich, der künftig immer mehr Bedeutung erlangen dürfte. Gemeint ist das um Watson entstandene Ökosystem, das stetig wächst und um das sich nicht nur hochzahlte Entwickler versammeln, sondern auch Studenten oder einfach nur Enthusiasten, die sich selbst an Watson-Apps versuchen wollen.
- Das Watson Headquarter
Das Hauptquartier von Watson befindet sich „standesgemäß“ am Aston Place, Teil von New Yorks Silicon Alley. - Watson-Avatar
Bei Jeopardy war Watson mit diesem Avatar vertreten, der bald zum Logo des Systems werden sollte. Im Februar 2011 hat es in der US-Quizshow die Supercracks Ken Jennings und Brad Rutter haushoch besiegt. Das hat aber etwas Anlauf gebraucht. - Holpriger Jeopardy-Start
Das Erscheinen des 74-fachen Jeopardy-Gewinners Jennings 2004 in einem Restaurant gilt als Geburtsstunde von Watson. Ein Jahr später hat man begonnen, das aus dem DeepQA-Projekt weiterentwickelte System mit früheren Jeopardy-Fragen und den richtigen Antworten zu füttern. Aber noch bis zum großen Sieg Anfang 2011 ist Watson immer wieder über Fangfragen und semantische oder kontextuelle Ungereimtheiten gestolpert. - Anfangs noch raumfüllend
Der 2011 bei Jeopardy für Watson eingesetzte Superrechner war damals noch mehr als schrankgroß. Denn er musste Platz für 90 IBM Power 70 Server mit Power7-Prozessoren bieten, die durch Multithreading 2.880 CPU-Kerne mit 16 Terabyte RAM zur Verfügung stellen, um in einer Sekunde 500 GB an Daten verarbeiten zu können. - Watson-Entscheidungsprozesse
Kognitiv weiß Watson, Sachverhalte zu beobachten, zu interpretieren und zu bewerten, um schließlich wie in der US-Quizshow Jeopardy eine Entscheidung zu treffen. - Watson Health Unit
Produktmanagerin Leanne LeBlanc zeigt hier, wie sich über eine Million Gigabyte an Gesundheitsdaten, die bei einem Menschen in seinem Leben zusammen kommen, über ein Tablet abrufen lassen. - Watson im Kampf gegen Leukämie
Am Andy Anderson Center der University of Texas MD Anderson Cancer Center nutzt die Leukämiespezialistin Courtney DiNardo Watson bei der Visite, um Einsicht in die Patientendaten zu nehmen. - Watson Analytics für jedermann
Wie Watson Analytics zu jedermann finden soll, zeigt dieses Bild. - Watson geht nach Japan
Anfang April 2015 wurde bekannt, dass Japans Mobilfunkriese SoftBank Mobile den Kundenservice in den Shops und im Callcenter mit IBM Watson vorantreiben will. Dazu ist aber nötig, dass das System Japanisch lernt, denn ohne dem geht nichts im Land der aufgehenden Sonne. - OCR-Fallen
Das komplexeste chinesische Zeichen besteht aus vier dieser Drachen mit jeweils 16 Strichen (s.o. links) und bedeutet schwatzhaft. Sind die chinesischen oder japanischen Kanji-Zeichen in Regelschrift und nicht zu klein ausgedruckt, sind sie ähnlich wie QR-Codes für OCR-Programme oft leichter lesbar als viele andere Schriften. Watson wird den Sinn wohl blitzschnell über den Kontext erfassen, auch wenn der rechte Strich jeweils nicht wie gepinselt aussieht.
Starker Zuwachs für die Watson Developer Cloud
IBM bleibe zwar eine B2B-Company und richte sich mit kognitiven Systemen in erster Linie an B2B-Kunden und an Anwender in Highend-Bereichen wie der Forschung und Krebstherapie. "Mit der Watson Developer Cloud als ‚Watson Ecosystem‘ verfolgen wir aber ebenso die Strategie, die Technologie auch in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen", erklärt Hildesheim. Durch die Übernahme von AlchemyAPI hat die Watson Developer Cloud nicht nur rund 40.000 Entwickler hinzugewonnen. AlchemyAPI gilt auch als führender Anbieter von kognitiven, semantischen APIs (Programmierschnittstellen). Diese verhalten sich selbst wie kleine Apps und tragen dazu bei, dass heute Smartphone-Apps und PC-Anwendungen sehr viel schneller entwickelt werden können als mit herkömmlichen Programmiersprachen. Mit Anmeldung eines Zugangs zu IBM Bluemix als "digitale Plattform für Innovationen" über die Cloud kann sich jeder Interessierte an der Beta-Version versuchen, um seine eigene kognitive App zu erstellen.
In der App Gallery im Rahmen der Watson Developer Cloud finden sich so einige interessante Lösungen. Als Beta ist da zum Beispiel ein "Watson Spoken Healthcare" genannter Gesundheitsratgeber mit Frage und Antwort in natürlicher Sprache, eine "People in the News"-App, die die aktuell wichtigsten Personen in den Nachrichten zeigt, sowie eine andere App, die sich "Your Celebrity Match" nennt und über Twitter anzeigt, welcher bekannten Persönlichkeit man selbst am ähnlichsten ist.
Zu den auf der US-Website IBM Watson gezeigten bereits lauffähigen Beispielen gehören "MD Buyline", eine Beschaffungsplattform für das Gesundheitswesen, "Elance", eine Cloud-Lösung, über die App-Anbieter aus einem Pool von über drei Millionen freiberuflichen App-Entwicklern und Spezialisten schöpfen können, und ein "Fluid Expert Personal Shopper", der es dank Watson erlauben soll, in natürlicher Sprache Fragen zu stellen, wo man ein bestimmtes Produkt am besten beziehen kann und was beim Kauf zu beachten ist.