Legacy-Konzept Reality Pro

Kann sich Apple seine Brille sparen?

Kommentar  05.05.2023
Von 
Mike Elgan schreibt als Kolumnist für unsere US-Schwesterpublikation Computerworld und weitere Tech-Portale.
Dass die Zukunft von Augmented Reality in künstlicher Intelligenz liegt, wird immer deutlicher. Macht Apples Reality Pro unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch Sinn?
Nach dem Generative-AI-Hype sieht die Augmented-Reality-Zukunft völlig anders aus - meint unser Autor.
Nach dem Generative-AI-Hype sieht die Augmented-Reality-Zukunft völlig anders aus - meint unser Autor.
Foto: Ground Picture - shutterstock.com

Die Zukunft von Augmented-Reality-Brillen (AR) schien klar. Zumindest, bis OpenAI auf den Plan trat. Der Schwerpunkt von AR liegt auf der Idee von Microsoft Hololens (beziehungsweise Magic Leap), bei der Milliarden in Forschung und Entwicklung fließen, um hochauflösende digitale 3D-Objekte in physischen Räumen zu verankern. Der Heilige Gral ist dabei, dass zum Beispiel ein realistischer Affen-Avatar nicht nur auf einem realen Tisch stehen, sondern sich auch dahinter verstecken kann. Um solche Visualisierungskunststücke zu vollbringen, benötigen Unternehmen wie Microsoft und Magic Leap enorme Rechenleistung und entsprechend massive, nicht portable Hardware - enorme Preise ergeben sich dann von allein.

Viele (mich eingeschlossen) glauben seit langem, dass Apple das erste Unternehmen sein wird, das ein überzeugendes Alltagsprodukt im Bereich Augmented Reality auf den Markt bringen wird. Dieses Produkt dürfte allerdings noch mindestens vier Jahre entfernt sein. Die Zeit dazwischen soll ein Device überbrücken, das wahrscheinlich Reality Pro heißen wird - und auf Apples diesjähriger WWDC-Entwicklerkonferenz vorgestellt werden dürfte. Wenn Reality Pro dann (viel) später erhältlich ist, dürfte es sich auch dabei um High-End-Equipment handeln, kein Produkt für die breite Masse. Das legt auch das im Raum stehende Preisgefüge (zwischen 2.000 und 3.000 Dollar) nahe.

"Das Betriebssystem der menschlichen Zivilisation gehackt"

Während die Tech-Welt weiter auf überzeugende AR-Lösung wartet(e), fand eine KI-Revolution statt. Mit der Veröffentlichung seines Text-to-Image-Generators DALL-E und dem Chatbot ChatGPT trat OpenAI eine beispiellose Hype-Welle los, die bereits jetzt Tausende von Anwendungen hervorgebracht hat. Es ist kaum zu glauben, dass ChatGPT erst vor fünf Monaten - im Dezember 2022 - der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Das hat weitere KI-Applikationen und -Plattformen inspiriert. Inzwischen gibt es bereits so viele, dass schon mehr als 100 Verzeichnisse entstanden sind - und ein Verzeichnis der Verzeichnisse. Schon jetzt hat sich die Generative-AI-Welle des Jahres 2023 massiv auf unsere Kultur ausgewirkt. So sehr, dass Autor und Professor Yuval Noah Harari davon überzeugt ist, dass "die KI das Betriebssystem der menschlichen Zivilisation gehackt hat".

Das liegt in erster Linie daran, dass die Technologie unsere Erwartungen daran, wie alles funktionieren sollte, neu kalibriert hat. Das gilt insbesondere für die Erwartungshaltung in Sachen Augmented Reality: Die Umstellung auf AR impliziert einen tiefgreifenden Wandel der Art und Weise, wie wir Informationen finden.

Bei einer Suchmaschine geben wir unsere Fragen ein und erhalten eine lange Liste von Links zu möglichen Antworten. Künstliche Intelligenz liefert hingegen nur die Antwort und stellt nicht tausend Links zur Wahl, um die Antwort selbst finden zu müssen. Die neuen KI-Dienste im Allgemeinen und OpenAIs GPT-basierte Services im Besonderen haben unsere Erwartungen in der Praxis verändert. Wir erwarten detaillierte, flexible und variable Pattformen, die interaktiv auf Basis von Prompts funktionieren.

KI statt Brille

Wie sich diese neuen Ansprüche mit AR kombinieren lassen, zeigte kürzlich das von ehemaligen Apple-Mitarbeitern gegründete Startup Humane. Ein Wearable mit KI-Funktionalitäten, Kamera, Mikrofon und Projektor realisiert Augmented Reality ohne Brille:

Der Prototyp des Devices soll unter anderem mit Hilfe von Computer Vision Produkte erkennen und mit Hilfe online verfügbarer Daten analysieren können (etwa die genauen Zutaten eines bestimmten Schokoriegels). Diese Informationen könnten im Anschluss beispielsweise mit den Gesundheitsdaten des Benutzers abgeglichen werden, um allergische Reaktionen zu verhindern. Darüber hinaus sind damit auch Live-Übersetzungen inklusive simulierter Stimme möglich und diverse andere, ChatGPT-beeinflusste "Kunststücke".

Man könnte das Device von Humane als ein neuartiges, KI-basiertes und hochgradig personalisierten, tragbaren Amazon Echo Smart Speaker bezeichnen - oder eben als fortschrittliches AR-Gerät, das keine Brille ist. Anstatt Informationen ins Sichtfeld der Nutzer einzublenden, projiziert das Device Daten per Gestensteuerung auf jede beliebige Oberfläche. Das Gerät wurde also entwickelt, um die physischen Maschinen, die für die Interaktion mit verschiedenen Arten von KI erforderlich sind, unsichtbar zu machen - und sie in den menschlichen Körper zu integrieren.

Alles in allem überzeugt mich diese Vision der Augmented-Reality-Zukunft weitaus mehr, als jede bisher geleakte Info zu Apples Reality Pro. Apples Masterplan, mit einer großen, sperrigen, leistungsstarken und teuren AR-Lösung zu starten, um diese dann in vier oder fünf Jahren zu einer erschwinglichen, mobilen Standalone-Brille zu komprimieren, wirkt angesichts dieser Entwicklungen zunehmend altbacken.

Was die (Technologie-)Welt jetzt will, sind möglichst komfortable AR-Wearables, die auf Grundlage von Computer Vision und Machine Learning funktionieren und uns ermöglichen, uns selbst zu augmentieren. (fm)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation Computerworld.