"Man fragt sich, wie viele Weckrufe es noch braucht, bis Deutschlands Bildungspolitik endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht", kommentierte Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder die Ergebnisse der jüngsten Pisa-Studie. Laut der Untersuchung schneiden Jugendliche in Deutschland in Mathematik, beim Lesen und in den Naturwissenschaften deutlich schlechter ab als noch 2018.
Rund ein Drittel der etwa 6.100 repräsentativ ausgewählten 15 Jahre alten Schülerinnen und Schüler weist in mindestens einem dieser Fächer nur sehr geringe Kompetenzen auf, so die Studienergebnisse. Zirka jeder sechste Jugendliche hat in allen drei Bereichen deutliche Defizite. Damit bestätige sich der Abwärtstrend, der sich bereits in den vorangegangenen Studien abgezeichnet habe, hieß es.
Kein Weiter-So
"Es darf jetzt kein Weiter-So mehr geben", fordert deshalb Rohleder. Deutschlands Schulen müssten so schnell wie möglich, flächendeckend und umfassend digitale Medien einsetzen, um ihrem Bildungsauftrag verantwortungsvoll nachkommen zu können. Der Digitalpakt 2.0 für Schulen dürfe nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden. Der Vertreter der deutschen IT-Lobby verlangt eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern. Das Ganze müsse zudem von einem attraktiven Weiterbildungsprogramm für Lehrkräfte zum Einsatz digitaler Technologien im Unterricht begleitet werden.
Der Unterricht muss kontinuierlich weiterentwickelt und digitale Medien mit einbezogen werden, sagt auch Doris Lewalter, Bildungsforscherin an der Technischen Universität München (TUM). Sie ist auch Vorstandsvorsitzende des Zentrums für internationale Bildungsvergleichsstudien (ZIB), das die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) koordinierte Studie in Deutschland geleitet hat. "Die Lebensrealitäten der Jugendlichen ändern sich rasant und damit auch die Ausgangslage für die Anwendung von Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften", so die Bildungsforscherin.
Mathe hat ein Image-Problem
Die Bildungsdefizite ließen sich jedoch nicht allein auf fehlende Technik zurückführen, warnt Lewalter. Es liege auch an der Motivation und der Unterrichtsgestaltung. Im Vergleich zum Jahr 2012 hätten die Jugendlichen weniger Freude und Interesse an Mathematik. Zugenommen habe dagegen die Angst gegenüber dem Fach. Außerdem sähen die 15-Jährigen immer weniger Nutzen darin, Mathematik zu lernen.
Digitale Schulen: Mit Geld will die Politik alle Probleme lösen
"Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass sich die Schülerinnen und Schüler weniger durch ihre Mathematiklehrkraft unterstützt fühlen", konstatiert die Forscherin. Diese Unterstützung sei aber ein wichtiges Merkmal für guten Unterricht. "Zudem nehmen die Jugendlichen den von ihren Lehrkräften intendierten Lebensweltbezug im Unterricht nur in Teilen wahr. Das erschwert es ihnen zu erkennen, welche Bedeutung Mathematik in ihrem Leben spielt - worunter wiederum die Motivation für das Fach leiden kann", so Lewalter.
IT-Technologie als Lösung?
"Wir brauchen kluge Köpfe, die selbstverständlich lesen, rechnen und schreiben können, aber vor allem auch in allen MINT-Fächern stark sind", appelliert Bitkom-Mann Rohleder an alle Beteiligten. "Wenn wir langfristig international wettbewerbsfähig bleiben wollen, muss dieser Bildungsrückstand dringend aufgeholt und unser Bildungssystem endlich zeitgemäß gestaltet werden." Dafür müssten die Kinder fit gemacht werden im Umgang mit digitalen Technologien. "Wir müssen Begeisterung in ihnen wecken, digitale Technologien zu verstehen und sie selbst weiterentwickeln zu wollen."
Die Bitkom-Verantwortlichen setzen auch darauf, dass Schülerinnen und Schüler mit Hilfe digitaler Technologien besser, schneller und motivierter lernen. Zudem könnten Lehrkräfte entlastet werden. "Digitale Technologien sind die Antwort auf eine der größten Herausforderungen, vor der Schulen stehen: der Mangel an Lehrerinnen und Lehrern", so Rohleder. "Wir dürfen das riesige Potenzial, das digitale Technologien für individuelles Lernen bieten, nicht länger ungenutzt lassen."
Dafür brauche es jedoch dringend Investitionen in die Digitalisierung der deutschen Schulen. Hier stehe vor allem die Politik in der Pflicht. Noch immer fehle die im Koalitionsvertrag zugesicherte nahtlose Anschlussfinanzierung des Digitalpakt Schule, bemängelt der Vertreter der hiesigen IT-Industrie. "Bund und Länder dürfen sich hier nicht in einem Gerangel um Kompetenzen verfangen, sondern müssen an einem Strang ziehen, um den Digitalpakt 2.0 auf den Weg zu bringen."
"Die Befunde der PISA-Studie sind besorgniserregend", räumt Jens Brandenburg, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, ein. "Wir brauchen dringend eine Trendwende und müssen die Anstrengungen erhöhen, um die Grundkompetenzen aller Schülerinnen und Schüler zu stärken." Auf Digitalisierungsdefizite geht der Staatssekretär indes nicht ein. Es brauche dringend eine gezielte Förderung für die sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen.
Brandenburg kündigte an, sein Ministerium wolle mit dem Startchancen-Programm etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler besonders stärken. Laufzeit und Mittelvolumen seien dabei ein absolutes Novum im Bildungsbereich. Bund und Länder investierten insgesamt 20 Milliarden Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren. "Es geht um nichts weniger als die Chancen und die Zukunft unserer Kinder", so der Politiker.
Bildungsniveau sinkt in vielen Ländern
Neben Deutschland haben auch viele andere Länder Probleme mit ihren Bildungssystemen. Rund 690.000 Schülerinnen und Schüler aus 81 Ländern und Volkswirtschaften haben an der aktuellen Erhebung teilgenommen. Schwerpunktbereich war Mathematik.
Fazit der Verantwortlichen bei der OECD: Insgesamt sei es in der PISA-Erhebung 2022 zu einem beispiellosen Rückgang des Leistungsdurchschnitts gekommen. der Leistungsrückgang in Mathematik dreimal so hoch ausgefallen wie jede vorherige Veränderung von einer PISA-Erhebung zur nächsten.