ITSM-Methoden

ITIL V4 Hands-on

10.03.2020
Von  und
Peter Schneider arbeitet als Senior Produkt Manager bei der Qt Company, dem Hersteller der Qt Software Development Platform. In seiner Karriere hat er in verschiedenen Produktmanagementpositionen bei Efecte, Nokia und Siemens zahlreiche Projekte im Bereich Applikationsentwickung und Enterprise Service Management erfolgreich umgesetzt.
Philip Scherer ist Senior Consultant bei Serview.
Mit ITIL V4 lassen sich nun auch agile Methoden wie DevOps in das Service Management implementieren. Welche Voraussetzungen dafür geschaffen werden sollten, lesen Sie hier.

Agilität ist für Organisationen jeder Größe die Voraussetzung, um schnell auf flexible Kundenanforderungen und Marktbedingungen reagieren zu können - dies gilt auch für den Bereich Service Management und Support. Seit Ende Februar 2019 ist ITIL V4 auf dem Markt und soll Organisationen unter anderem beim Aufbau und Management agiler Serviceprozesse unterstützen.

Mit ITIL V4 halten agile Methoden Einzug im IT Service Management. Wir zeigen Ihnen, wie ein agiler Service Desk auf dieser Basis aussehen kann.
Mit ITIL V4 halten agile Methoden Einzug im IT Service Management. Wir zeigen Ihnen, wie ein agiler Service Desk auf dieser Basis aussehen kann.
Foto: sirtravelalot - shutterstock.com

Die wohl interessanteste Neuerung ist, dass sich mit der neuen Version des Frameworks auch agile Methoden wie DevOps in das Service Management implementieren lassen. Doch ITIL galt bisher als eher unflexibel und es fehlt in manchen Organisationen noch an praktischen Erfahrungen. Der Artikel zeigt, wie ein agiler Service Desk auf Basis von ITIL 4 aussehen kann und was bei dessen Einführung zu beachten ist.

ITIL V4 - Service Desk goes Agile

In ITIL V3 (2011) wurde der Service Desk als eine der vier Funktionen innerhalb eines IT Service Providers beschrieben und als eigenständige Organisationseinheit definiert. Angesiedelt in der Lifecycle-Phase des Bereiches Service Operation sollte er vor allem die Prozesse Incident Management und Request Fulfilment bedienen und übernahm für die Organisation zumeist den gesamten First Level Support. Für Anwender wurde so eine zentrale Stelle geschaffen, an die sie sich mit allen Anliegen wenden können. Wenn jedoch unterstützte Software anspruchsvoller wird sowie ERP-Systeme und spezielle Hardware eingesetzt werden, sind häufig komplexere Incidents zu bearbeiten, bei denen ein klassischer First Level Support relativ rasch an seine Kompetenzgrenzen stößt. Der Second- oder Third Level Support kann zwar Abhilfe schaffen - der Service Desk als solcher wird damit noch lange nicht agil.

ITIL 4 ersetzt den bekannten Service Lifecycle nun durch ein Service Value System mit Value Streams.
Das Ziel: Organisationen brauchen sich nicht länger auf fest definierte Prozesse verlassen, sondern können Wertschöpfungsketten bilden, die sich in Form einzelner Schritte zwar auf Prozesse stützen, jedoch flexibel modifizierbar sind. Der veränderte Ansatz zeigt, wie Aktivitäten und Komponenten zusammenwirken (müssen), um Mehrwerte für Kunden zu schaffen.


Anders als in ITIL V3 ist der Service Desk keine Funktion mehr, sondern eine der mit ITIL 4 vorgestellten Practices. Es handelt sich dabei im Prinzip um ein Set von Ressourcen und Aktivitäten, die ein bestimmtes Ergebnis mit nachweisbarem Kundennutzen liefern sollen. Abhängig vom gewünschten Ergebnis werden verschiedene Praktiken in organisationsspezifische Value Chains sortiert. Der Service Desk ist in diesem Szenario ein Werkzeug und nicht länger eine eigenständige Organisationseinheit. Als Practice kann er jetzt verschiedene Value Streams unterstützen und dient zugleich weiterhin als zentraler Kontaktpunkt für alle User.

ITIL 4 und die Support-Evolution

Damit er als zentrale Anlaufstelle für Nutzeranfragen optimal funktionieren kann, muss auch ein agiler Service Desk alle gewohnten Kontaktmöglichkeiten bieten - und sich idealerweise sogar gleich "anfühlen". Die strukturellen Veränderungen finden eher im Hintergrund, im besten Fall für den Anwender unsichtbar, statt.
Um die Unterschiede zu verdeutlichen, lohnt sich ein Rückblick auf einen klassischen Support: Anwender können den Service Desk ihrer Organisation in der Regel über mehrere Kommunikationskanäle erreichen. Dazu stehen in der Regel E-Mail, Chat und Telefon sowie moderne Self-Service-Portale zur Verfügung. Als eigenständige Organisationeinheit bearbeitet der traditionelle Service Desk alle eingehenden Incidents und beantwortet Anfragen, führt also nach ITIL V3 die Prozesse Incident Management und Request Fulfilment aus. Sollten dabei Schwierigkeiten auftauchen, können Mitarbeiter Aufgaben funktional oder hierarchisch eskalieren und an einen Second- oder Third Level Support weiterreichen. Diese werden in der Regel von anderen Organisationseinheiten bedient. Diese Praxis führt jedoch häufig zu einem vollen Backlog und Ressourcenengpässen, da Mitarbeiter durch den First Level Support delegierte Aufgaben nun zusätzlich zu ihrem eigenen Alltagsgeschäft erledigen müssen und eigentlich gar keine Zeit dafür einplanen können. Ein agiler Service Desk hilft, dieses Problem zu lösen.

Abb. 1: Schematische Darstellung eines klassischen Service Desk
Abb. 1: Schematische Darstellung eines klassischen Service Desk
Foto: Philip Scherer

Im Optimalfall wird sich für die Anwender auf den ersten Blick kaum eine Veränderung ergeben: Sie können für Anfragen weiterhin die gewohnten Kommunikationskanäle nutzen - erhalten jedoch die gewünschten Antworten deutlich schneller als vorher. Auch mögliche Eskalationswege sind einfacher zu erstellen als in einem klassischen Service Desk: Sollte der First Level Support einen Incident delegieren, dann bleibt dieser jetzt im gleichen Team - und zwar in dem Team, das die Verantwortung für Service und Produkt besitzt. Durch die kurzen Eskalationswege können sie kürzere Lösungszeiten realisieren und erreichen in Summe eine höhere Anwender- und Mitarbeiterzufriedenheit.

Um innerhalb einer Organisation einen agilen Service Desk aufzubauen, können Ansätze aus DevOps sowie selbstorganisierende Teams eingesetzt werden. Diese haben eines gemeinsam: Sie stellen eine Bereichs- und unternehmensübergreifende Zusammenarbeit zwischen Managern, Entwicklern, Experten und Kunden - also im Grunde Menschen und Interaktionen statt Prozesse und Tools in den Mittelpunkt. Das Ziel sollte dabei sein, die gesamte End-to-End-Verantwortlichkeit für einen Service oder ein Produkt innerhalb eines Teams zu konzentrieren. Für den Service Desk bedeutet das, dass dieser künftig von vorn herein aus wechselnden Personen mit unterschiedlicher Fachexpertise besteht. Der First Level Support wird aus Mitgliedern der DevOps-Teams gebildet. Das bedeutet, dass er nur noch in der Theorie eine Organisationseinheit darstellt. Tatsächlich können die Mitglieder jetzt jedoch verteilt in verschiedenen Büros, Gebäuden oder sogar Niederlassungen sitzen. (Siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Schematische Darstellung eines agilen Service Desk
Abb. 2: Schematische Darstellung eines agilen Service Desk
Foto: Philip Scherer

Der wichtigste Unterschied zum traditionellen Ansatz besteht darin, dass das DevOps-Team den Incident, der ihr Produkt betrifft, jetzt annimmt und sich um die komplette Lösung kümmert. Das bedeutet, dass der First Level Support des Teams den Incident bearbeitet und sich, falls das für die Lösung notwendig ist, direkt an seine Kollegen wenden kann. Sollten erweiterte Kompetenzen notwendig sein, können sich die Teammitglieder selbst organisieren und spontan alle zusammenkommen, um ein komplexes Incident zu lösen (Swarming). Dies kann beispielsweise in einem speziellen Chat-Channel, direkt am Arbeitsplatz oder bei einem spontanen Standup-Meeting geschehen. Voraussetzung: Im Kern müssen alle Teams, die einen Fach- oder IT-Bereich verantworten, den notwendigen Support sicherstellen (können) und dafür von vorn herein die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen.

Der agile Service Desk kommt so im besten Fall komplett ohne traditionelle Eskalationswege aus. Dies erfordert nicht zwangsläufig mehr Personal, sondern bedeutet in erster Linie eine kulturelle und strukturelle Veränderung der gesamten Organisation - und genau da liegt die größte Herausforderung: Denken in Services und die Transformation der klassischen zu einer serviceorientierten IT steckt in manchen Unternehmen noch in den Kinderschuhen.

ITIL V4 - das sollten Unternehmen bedenken

Wie jedes IT-Projekt sollte auch die Einführung eines agilen Service Desk sowie eine mögliche Veränderung der Support-Prozesse gut durchdacht und geplant werden. Organisationen sollten dabei folgende Voraussetzungen klären:

  1. Verantwortlichkeiten für Services und Produkte: Im ersten Schritt müssen die Verantwortlichkeiten für Services oder Produkte definiert werden. Das bedeutet, dass nicht nur wie zuvor ein Service Owner pro Service benötigt wird, sondern ein Team, das End-to-End, also von der Entwicklung bis zu dessen Betrieb verantwortlich ist. Das setzt natürlich auch voraus, dass die Organisation bereits IT Services definiert hat. Diese Teams müssen auch nicht zwangsläufig immer aus mehreren Personen bestehen. Grade bei mittelständischen Unternehmen gibt es oft Services, zum Beispiel im Bereich Hardware oder Netzwerk, die nur von wenigen Personen betreut werden. Die beiden Netzwerkadministratoren stellen so ein verantwortliches Team dar, das den Service "Netzwerk" End-to-End betreut.

  2. Korrekte Kategorisierung sicherstellen: Die richtige Kategorisierung von Anfragen entscheidet über die Effizienz des Supports. Dabei müssen die Kategorien jetzt die zuvor gebildeten Verantwortlichkeiten der jeweiligen Services abbilden. Um einen Incident den richtigen Teams zuzuweisen, können Organisationen entweder einen Dispatcher einsetzen, der diese Aufgabe manuell erledigt oder ein Service-Management-Tool verwenden. Künstliche Intelligenz, speziell Machine Learning, kann hier bei der Entscheidung wirkungsvoll unterstützen.

  3. Die richtigen Experten identifizieren: Um einen agilen Service Desk einzuführen, müssen Organisationen innerhalb der einzelnen Teams nun den Support sicherstellen. Besteht das Team aus mehr als einer Person, kann die Support-Rolle für einen bestimmten Zeitraum getauscht werden. Dazu bietet sich ein Rotationsverfahren an. Mitarbeiter erhalten so die Möglichkeit genau zu planen, wann sie Support leisten müssen und wann nicht. Im Optimalfall können sich "freie" Team-Mitglieder besser auf ihre Aufgaben konzentrieren. Bildet man den agilen Service Desk mit bestehenden Ressourcen, dann können Organisationen, abhängig von den Kenntnissen einzelner Mitarbeiter, das Personal des bestehenden Service Desk auf die neuen Service-Teams aufteilen.

  4. Prozesse und Verfahren anpassen: Für das Service Management verantwortliche Experten müssen konsequenter denn je alle Elemente identifizieren, die zur Wertschöpfung auf Nutzer- und Kundenseite beitragen und dessen Businessziele unterstützen. Dies betrifft sowohl Aktivitäten, Rollen und Verantwortlichkeiten von Personen, als auch die eigentlichen Serviceprozesse. Außerdem gilt es zu ermitteln, wieviel Prozess ausreicht, um Stabilität und Flexibilität des Service Desk zu gewährleisten. Nur wenn darüber Klarheit besteht, lässt sich das Maß für eine "gerade genug Struktur" finden, so dass sich Serviceprozesse auch tatsächlich vereinfachen und beschleunigen lassen. Zudem ist es wichtig, ein gezieltes Verlassen etablierter Prozessstrukturen zu ermöglichen - also agile Methoden wie, Swarming oder spontane Standup Meetings zu unterstützen. Vorrangig sollte die Zuweisung der Incidents in die geeigneten Teams betrachtet werden. Hier bedarf es schneller und zuverlässiger Verfahren, um das agile Konzept sinnvoll zu unterstützen.

  5. Zugang zu passenden Tools sicherstellen: Wird zur Organisation des agilen Servicekonzepts ein Tool verwendet, sollte jedes verantwortliche Team dazu Zugang haben. Es sollte in den täglichen Workflow passen und leicht benutzbar sein. Zudem müssen Organisationen die Nutzung von Kommunikations-Tools und Enterprise Social Networks fördern. Dazu zählen beispielsweise Slack, Microsoft Teams, oder Rocket Chat. Hier können sich räumlich verteilte Teams selbstständig organisieren, Möglichkeit zur Lösung spezieller Kundenanfragen erarbeiten oder sich für ein Standup Meeting verabreden. Unternehmen sollten jedoch darauf achten, dass Problemlösungen nicht verloren gehen, sondern direkt in der Service-Management-Lösung oder in einer Knowledge Base hinterlegt werden.

  6. Neue Tools sorgfältig auswählen: Kein Tool der Welt kann Organisationen die Neustrukturierung ihrer Serviceprozesse vollständig abnehmen. Vor einer Neuanschaffung sollten deshalb die Gegebenheiten gründlich analysiert werden. Insbesondere gilt es zu ermitteln, ob sich eine Neuanschaffung tatsächlich lohnt oder die bestehende Lösung nur anders zu nutzen ist. ITIL behandelt diesen Punkt in dem Grundprinzip: "Dort beginnen wo man steht". Genügt ein bestehendes Tool nicht mehr den Anforderungen, sollten Organisationen bei der Auswahl darauf achten, dass entsprechende Lösungen nicht nur die Prozesse sauber abbilden, sondern vor allem die Kommunikation der Service-Desk- und Experten-Teams unterstützen. Gerade für international agierende Unternehmen ist dies der Schlüssel für einen wirklich agilen Service Desk mit hohem Kundennutzen.

ITIL-4-Service-Desk als Transformations-Startpunkt

Ein agiler Service Desk kann nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn alle Beteiligten auch dessen konkreten Nutzen verstehen. Dazu müssen Führungskräfte und Mitarbeiter gleichermaßen bereit sein, ihre Aktivitäten verstärkter denn je am Kundennutzen auszurichten und im wahrsten Sinne des Wortes zum flexiblen Dienstleister zu werden. Dies erfordert nicht nur eine gehörige Portion Offenheit, sondern einen kulturellen Wandel innerhalb der gesamten Organisation. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Veränderung nicht über Nacht passiert, sondern aktiv und schrittweise eingeführt werden sollte. Der Service Desk ist ein idealer Verantwortungsbereich, an dem ein solcher Kulturwandel beginnen kann. Wenn Mitarbeiter den Nutzen für ihre Kunden erkennen, werden sie ihre Erfahrungen in die Fachabteilungen und Führungsetagen tragen - und die Vision von der Digitalen Transformation auch über den Bereich Service Management hinaus unterstützen.

Um einen agilen Service Desk zu starten, müssen Führungskräfte zunächst die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehört unter anderem, geeignete Mitarbeiter als Agile Service Manager oder Agile Coaches auszuwählen, sie mit den notwendigen Entscheidungsbefugnissen auszustatten und ihnen den notwendigen Spielraum lassen. Gemeinsam mit ihren Teams können sie bestehende Prozesse hinsichtlich Kundennutzen, Effizienz und Effektivität analysieren und im zweiten Schritt neu strukturieren. Die praktische Umsetzung des zugehörigen IT-Projektes kann durch eine Kombination von ITIL 4 mit DevOps erfolgen. Organisationen sollten hier jedoch nicht zu Tool-verliebt agieren, sondern sich auf das Wesentliche beschränken und auch nach Inbetriebnahme des Service Desk auf eine kontinuierliche Verbesserung ihrer Value Streams und Prozesse achten: Ändern Servicekunden beispielsweise ihren Business-Fokus, ist die zugehörige Wertschöpfungskette umgehend zu prüfen und zugehörigen Aktivitäten, Praktiken und Ressourcen so anzupassen, dass der Kunden den maximalen Nutzen hat. (bw)