Experten diskutieren Legacy-Modernisierung

IT-Verjüngungskur mit Nachdruck

24.04.2024
Von 
Richard Ruf ist Autor und Texter in München. Im Fokus seiner Arbeit bei der Agentur "Medienstürmer" liegen vor allem die Themen Modern Work, Projektmanagement, Office-Kollaboration und Open Source.
Fachleute verraten, warum Unternehmen die Modernisierung von Altsystemen oft nicht entschieden genug angehen - und weshalb KI, Low Code & Co. daran nichts ändern.
"Alt" heißt nicht gleich "veraltet" - dennoch tut ab und an eine auffrischende "Renovierung" langjähriger Bestandssysteme gleichermaßen Not wie gut.
"Alt" heißt nicht gleich "veraltet" - dennoch tut ab und an eine auffrischende "Renovierung" langjähriger Bestandssysteme gleichermaßen Not wie gut.
Foto: r.classen - shutterstock.com

Der alte Heraklit-Ausspruch "Nichts ist so beständig wie der Wandel" mag zuweilen etwas abgedroschen klingen. Etwas Wahrheit steckt dennoch darin, wenn man die Debatten über die Modernisierung von Legacy-Systemen verfolgt. Aus neu wird alt wird neu, fortwährend sehen sich Unternehmen mit der Frage konfrontiert, wie sie ihre IT-Systeme und Applikationen an neue Anforderungen anpassen sollen. Mit dieser Frage beschäftigte sich daher folgerichtig auch die COMPUTERWOCHE-Expertenrunde "Legacy-Modernisierung".

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Alter ist nur eine Zahl

Zunächst räumen die Experten mit einem Vorurteil auf: Denn wer über "Legacy" spricht, landet ziemlich schnell bei negativen Konnotationen. Der nicht selten synonym benutzte Begriff "Altsystem" zeigt bereits, dass in der Debatte selten wohlwollend mit den Systemen umgegangen wird. Doch schnell wird klar, dass ein altes System nicht notwendigerweise auch veraltet ist.

Denn entscheidendes Kriterium ist vor allem, ob das Bestandssystem überhaupt noch die Geschäftsanforderungen umsetzen kann, wie Gundula Folkerts, PreSales Lead Legacy Application Modernization bei T-Systems, beschreibt: "Wenn sich beispielsweise ein Startup innerhalb kurzer Zeit stark verändert, kann selbst eine cloud-native Lösung 'Legacy' sein, wenn sie die Geschäftsanforderungen nicht mehr abbilden kann."

Mit dieser Lesart ist sie in der Expertenrunde nicht allein. Martina Freers, Executive Board Member und Principal Consultant von INNOQ, hebt hervor, dass Anwendungen, die als 'Legacy' gelten, in aller Regel kritische Geschäftsprozesse unterstützen, die negativen Konnotationen seien daher eher unangebracht. "Erst, wenn neue Anforderungen, die durch Geschäftsänderungen entstehen, nicht mehr oder nur sehr teuer umsetzbar sind und der ROI nicht mehr gegeben ist, ist etwas wirklich 'Legacy'. Das kann man aber schlecht am Alter festmachen", sagt Freers.

Der Wille ist da - doch die Entschlossenheit fehlt

Nun ist es so, dass ein Großteil der Unternehmen die Modernisierung ihrer bestehenden IT-Systeme durchaus als wichtig erachtet - jedoch einfach nicht richtig damit anfangen wollen. Obwohl viele bereits seit Jahren nicht mehr zufrieden sind mit ihren Bestandssystemen, fürchten sie den Ressourcenaufwand.

Diese Beschreibung deckt sich auch mit den Erfahrungen aus der Praxis, die Guido Falkenberg, SVP Product Management bei der Software AG, in die Runde wirft: "Ich erlebe bei den Unternehmen oft eine Diskrepanz. Einerseits gibt es eine latente Unzufriedenheit mit Altsystemen. Wenn es dann andererseits jedoch um grundlegende Erneuerung auch auf der technischen Ebene geht, kommt sofort der Budget Freeze und es geht plötzlich nur noch um die fachliche Weiterentwicklung." Falkenberg warnt, dass Unternehmen mit so einem Vorgehen Stück für Stück technische Schulden aufbauen würden, die irgendwann nur noch mit hohen Kosten und oft auch unter Zeitdruck abzubauen seien. "Der Bedarf ist da, aber die notwendigen Schritte werden oft nicht entschieden genug getätigt", ergänzt er.

Doch auch innerbetriebliche Prozesse und Kommunikationswege können ein Hindernis sein, die Modernisierung von Altsystemen rechtzeitig anzugehen. Denn die Erkenntnis, dass es Handlungsbedarf gibt, tritt häufig recht früh ein - zumindest in den Fachabteilungen, die direkt am System arbeiten.

"Die Frage ist dann oft: Haben die Abteilungen überhaupt die nötigen Mittel und Wege, um den Bedarf in die hohe Entscheiderebene zu kommunizieren?", erklärt Christoph Husberg von Concisco. Denn erst hier würden die nötigen Budgets freigegeben, um den Modernisierungsprozess anstoßen zu können. Ausreichende Kommunikationswege von unten nach oben seien demnach entscheidend.

Studie "Legacy-Modernisierung 2024": Sie können sich noch beteiligen!

Zum Thema Legacy-Modernisierung führt die COMPUTERWOCHE derzeit eine Multi-Client-Studie unter IT-Verantwortlichen durch. Haben Sie Fragen zu dieser Studie oder wollen Sie Partner werden, hilft Ihnen Julia Depaoli (julia.depaoli@foundryco.com, Telefon: +49 15290033824) gerne weiter. Informationen zur Studie finden Sie auch hier zum Download (PDF).

Bereits kleine Schritte können Wirkung zeigen

Wenn der Bedarf erkannt und formuliert sowie die Notwendigkeit dem C-Level bewusst gemacht wurde: Was hindert Unternehmen dann eigentlich daran, die Modernisierung bestimmt und zielsicher anzugehen?

Laut Expertenrunde sind das in den meisten Fällen falsche Erwartungen, gar Ängste, die viele Firmen zunächst von Modernisierungsprojekten abhalten. Gundula Folkerts beschreibt, dass Vorurteile und Ängste, geschürt durch viele, teils konträre Meinungen innerhalb eines Unternehmens die Debatte bestimmen. "Die Diskussion wird häufig nicht neutral geführt. Aus meiner Sicht liegt das daran, dass die Expertise, was Modernisierung tatsächlich leisten kann, in vielen Unternehmen schlecht entwickelt ist", erklärt sie.

Häufig scheinen Unternehmen auch den notwendigen Scope falsch einzuschätzen. Wer nur in Großprojekten denkt, tut sich oft schwer, den ersten Schritt zu gehen. Denn Legacy-Modernisierung impliziert oft den sogenannten "Big Bang", vor dem viele erst einmal zurückschrecken.

Thomas Strigel, Leiter Geschäftsfeldentwicklung Managed Solutions & Consulting von SPIRIT/21, hebt jedoch hervor, dass es gar nicht notwendig sei, von vornherein so groß zu denken. "Der 'Big Bang' ist ein Angstgespenst, das immer dann umso größer wird, je mehr sich die Verantwortlichen im C-Level damit beschäftigen. Dabei wird oft vergessen, dass schon die kleinen Schritte wichtig und hilfreich sind", sagt Strigel. Schon mit den ersten kleinen Steps ließen sich bereits in frühen Stadien Effekte und Akzeptanz erzeugen. "Wer sich dann flexibel aufstellt, bemerkt vielleicht sogar, dass er gar nicht den gesamten Funktionsumfang des Altsystems wieder selbst abbilden muss", ergänzt er. Häufig gebe es bereits genügend Standardlösungen, die sich an die eigene Kernanwendung anschließen ließen und so den Aufwand für Eigenentwicklungen deutlich senkten.

Die Sache mit der Dokumentation

Hat man sich nun durchgerungen zur Entscheidung, das eigene Altsystem auf Vordermann zu bringen, stellt man häufig fest: Keiner weiß so richtig, was im Code so alles los ist. Die Dokumentation, wenn überhaupt vorhanden, ist unvollständig oder völlig veraltet. Was nun?

Zunächst einmal ist man damit nicht allein. "Unternehmen sind in der Regel mit Wartung und Betrieb der Systeme so sehr beschäftigt, dass sie sich nicht wirklich mit Dokumentation und Weiterentwicklung beschäftigen", erklärt Philipp Moelders, Vice President Technology Office von netgo.

Dabei gehe es bei der Dokumentation offenbar gar nicht nur darum, was genau gemacht wurde - sondern vor allem um das Warum: "Wenn man den Grund nicht kennt, warum etwas so umgesetzt wurde, kann man nicht mehr fragen: Ist der Grund denn überhaupt noch valide?", sagt Martina Freers. Das Nachkonstruieren der Verbindung zwischen fachlicher und technischer Ebene sei dann sehr schwierig bis unmöglich. Leider fehle dieser Teil der Dokumentation häufig.

Wolfgang Neuhaus, Founder and Executive Member of the Board von itemis AG, plädiert indes dafür, mit fakten- und datenbasierten Analysen zu arbeiten. "Wir sagen immer: 'Die Wahrheit steckt im Code'. Weder das Fachpersonal noch die Dokumentation können in der Regel das gesamte Bild vermitteln." Neuhaus hält es für eine gute Idee, auf Tools wie beispielsweise Logging zu setzen, um ein klares Bild zu schaffen und die Ausgangssituation diskutieren zu können. "Sonst ist man immer von Meinungen abhängig - und das ist selten eine gute Basis."

KI, Low Code & Co. sind (noch) keine Wunderheilmittel

Wer darauf hofft, seine Modernisierung großflächig mit neuen Technologien wie KI, Large Language Models (LLM) oder Low- beziehungsweise No-Code-Lösungen zu beschleunigen, wird jedoch vorläufig noch enttäuscht sein. Denn obwohl die Expertenrunde durchaus Anwendungsszenarien erkennt, sind diese bisher noch eher punktuell - jedoch durchaus spannend, wie die Diskussion schnell zeigt. Vor allem im Bereich der Prozessoptimierung und im Anforderungsmanagement spiele Low-Code durchaus eine Rolle, wie Christoph Husberg bemerkt. Dadurch könnten Fachbereiche kleinere einzelne Lösungen selbst formulieren, bevor die Softwareentwicklung in der Finalisierung unterstütze.

Auch mittels LLM lassen sich einzelne Prozessschritte unterstützen, wenn sie spezifisch für das jeweilige Unternehmen trainiert wurden - indem sie beispielsweise Dokumentationen und andere Quellen analysieren oder Anfragen in menschlicher Sprache ermöglichen. Gundula Folkerts hebt auch die Bedeutung von LLM zum Rebuild bestehender Applikationen hervor, weist jedoch daraufhin, dass es dabei weniger um 1:1-Umsetzungen und mehr um modernisierte Anwendungen in Technik & Programmiersprache gehe.

Martina Freers sieht durchaus einen vermehrten Einsatz von KI im Bereich der Legacy-Modernisierung, bemerkt jedoch, dass häufig der Business Case unklar ist und sieht vor allem Nachholbedarf bezüglich Datenschutz und IT-Security. "Die Themen werden aktuell noch sehr stiefmütterlich behandelt, weil verständlicherweise jeder erstmal das Neueste ausprobieren will", sagt Freers.

Letztendlich gibt es also nach wie vor kein Wundermittel, wenn Unternehmen ihre "Altsysteme im Keller" modernisieren wollen - und auch kein Allgemeinrezept, wie Wolfgang Neuhaus zum Abschluss der Runde bemerkt: "Der Einsatz der richtigen Tools und Technologien ist extrem von der Ausgangssituation und dem Ziel abhängig. Letztlich gehört alles zu einem bunten Blumenstrauß an Hilfsmitteln, die man mit genügend Erfahrung bewerten muss."

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