Industrie 4.0 auf der Hannover Messe 2015

IT geht fremd

01.06.2015
Von 
Horst Ellermann ist Herausgeber des CIO-Magazins und Ambassador für CIOmove in Deutschland.
SAP und Siemens kuscheln. Industrie 4.0 dominiert die Messe. Zwar bejubeln Interessenverbände ihre Fortschritte, doch China hat die Pole-Position erobert, wie eine Studie der RWTH Aachen belegt.
  • Siemens investiert 2015 4,4 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung; 17.000 Softwareentwickler beschäftigt der Konzern
  • Richard Soley von ICC-Konsortium klingt der Begriff Industrie 4.0 zu revolutionär
  • Es gibt viele kleine Lösungen, wer aber auf den großen Wurf wartet, startet zu spät

Peter Kraus lupft seine buschigen Augenbrauen: "Heute morgen dachte ich kurz, ich bin bescheuert." Das war auf dem Weg zum ersten Flieger von Friedrichshafen nach Hannover - früh, sehr früh. Kraus will als Ex-CIO von ZF eigentlich nicht mehr so früh aufstehen. Sein Nachfolger Jürgen Sturm soll das jetzt machen. Kraus schmökert morgens lieber in der Zeitung: "Auch mal einen Artikel auslesen", schwärmt er - sich auch mal um Zukunftsthemen kümmern. Genau dafür ist er an diesem Messe-Dienstag aus den Federn gekrochen: Im "Global Industry Club" diskutieren rund 100 Manager das Thema Industrie 4.0. "Ist schön, die alten Kollegen wiederzusehen."

Aber es sind gar nicht nur CIOs und Ex-CIOs, die ihre Liebe zur Produktion entdecken - dann hätten sie ja auch auf der CeBIT bleiben können. Der Zuspruch von der Business-Seite ist genauso groß. Bernd Kuntze, CIO von Haas Food Equipment und Mittelstands-CIO des Jahres 2012, hat nicht nur einen Nicht-IT-Kollegen in den Global Industry Club mitgebracht, sondern auch gleich den Firmeneigentümer. Das Interesse an Industrie 4.0 oder dem "Industrial Internet" ist besonders groß bei denjenigen, die mit ihrem eigenen Geld bezahlen, wenn in der Produktion die Dinge eben nicht so zusammenlaufen, wie sie es eigentlich könnten.

"Ich bin kein Experte - deshalb bin ich hier"

Marcus Wallenberg, Eigentümer des gleichnamigen schwedischen Banken- und Industriekonzerns, sagt: "Ich war schon viele Male auf der Hannover Messe. Aber gerade ist es besonders spannend zu sehen, was in Deutschland passiert." Wallenberg, gerade zurück aus dem Silicon Valley, nennt zunächst bekannte Beispiele: Amazon und Alibaba sind die weltgrößten Retailer - ohne einen Laden zu besitzen, Uber ist das weltgrößte Taxiunternehmen, ohne ein Auto zu besitzen, Airbnb ist die weltgrößte Hotelkette, ohne ein Bett zu besitzen.

Marcus Wallenberg, Bankier und Industrieller: "Ich war schon viele Male auf der Hannover Messe. Aber gerade ist es besonders spannend zu sehen, was in Deutschland passiert."
Marcus Wallenberg, Bankier und Industrieller: "Ich war schon viele Male auf der Hannover Messe. Aber gerade ist es besonders spannend zu sehen, was in Deutschland passiert."
Foto: Wallenberg

Wenn nun also die Services wichtiger werden als die Produkte, dann sollte sich die Industrie diesem Trend stellen. Wallenberg glaubt, dass sich auch ABB, Ericsson, Elektrolux oder Atlas Copco - um nur einige seiner Beteiligungen zu nennen - ändern müssen. Allerdings: Wie weit Industrie 4.0 ihm dabei schon konkret helfen kann, da ist er sich auch noch nicht ganz sicher: "Ich bin kein Experte - deshalb bin ich hier."

IIC noch in der Findungsphase

Experte ist Richard Soley, Executive Director des Industrial Internet Consortium (IIC), das sich zum Ziel gesetzt hat, Maschinen besser mit Maschinen kommunizieren zu lassen. "Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat geschrieben, wir seien auf Standards fokussiert", sagt Soley: "Aber so weit sind wir noch gar nicht." Im IIC gehe es erst einmal darum, die richtigen Player an einen Tisch zu bekommen - "solche, die disruptiv sein wollen". Dabei ist das Konsortium erfolgreich: 157 Mitgliedsunternehmen hat das IIC seit gut einem Jahr gesammelt, darunter jüngst auch Siemens.

Gründungsmitglieder sind indes AT&T, Cisco, GE, IBM und Intel - was dem IIC den Ruf eingetragen hat, eine amerikanisch dominierte Veranstaltung zu sein. Soley ärgert das, denn sein Anspruch ist ein globaler - und mit Bosch und Siemens hat er ja auch gute Belege dafür. Trotzdem bleibt der Verdacht. Und den nutzen die regionalen Interessenvertreter, um sich erst einmal in kleineren Netzwerken zu sortieren. 17 Initiativen zählt die Europäische Kommission allein in der EU. Dabei ist allen klar, dass das Industrial Internet eine weltweite Angelegenheit ist. Trotzdem versuchen alle, in kleinen Kreisen Einigkeit herzustellen, denn es geht am Ende um die Frage: Wer verschafft sich einen Standortvorteil durch für ihn passende Standards?

Politik lässt sich nicht lumpen

So müht sich auch die Bundesregierung, eine Interessenvertretung für alle Deutschen zu bilden. Auf der Hannover Messe gaben Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Bundesforschungsministerin Johanna Wanka um neun Uhr morgens den offiziellen Start der Plattform Industrie 4.0 bekannt. Mit dabei: Bitkom, VDMA, ZVEI, die Fraunhofer-Gesellschaft und die IG Metall. "Wir müssen gerade beim Thema Industrie 4.0 an unsere vorhandenen Stärken in Deutschland anknüpfen", erklärte Gabriel. Bis zum nächsten IT-Gipfel im November soll ein neues Papier erstellt werden, wie dieses Ziel zu erreichen sei.

An Papier mangelt es generell nicht beim Thema Industrie 4.0. Die Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) rund um den ehemaligen SAP-Vorstand Henning Kagermann legt seit drei Jahren reichlich vor. Beim Vorabend-Event zur Ministerrunde klopften sich Kagermann und die Vertreter von Siemens, SAP und Accenture tüchtig auf die Schultern. Konsens, dass es gut wäre, wenn Maschinen mit Maschinen reden, herrscht überall. Dass sie es auch außerhalb der Produktion noch tun sollten, wenn beim Kunden Services zu erbringen sind, finden auch alle richtig. Auf der Meta-Ebene ist eigentlich alles klar. Nur im Konkreten …

Pragmatiker wie Peter Kraus erscheinen erst nach der Ministerkonferenz auf der Messe. Früh ist ja okay, aber so früh muss es nun wirklich nicht sein. Kraus kommt zur Ständetour des Global Industry Club, die um 10.30 Uhr auf dem pompösesten Stand der ganzen Messe beginnt: Siemens zeigt, was unter anderem die 17.500 Softwareentwickler des Konzerns ersonnen haben.

"Im Geschäftsjahr 2014 haben wir rund vier Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert, also rund sechs Prozent vom Umsatz", erklärt CTO Siegfried Russwurm: "2015 werden es 4,4 Milliarden sein." Und - anders als auf der CeBIT, wo die Besucher virtualisierte Server und Cloud-Lösungen erahnen können - gibt es bei Siemens tatsächlich Dinge zu sehen und anzufassen. Russwurm sitzt als Vorstand auch in allen erdenklichen Gremien zum Thema Industrial Internet. Für ihn geht es ums Sondieren, vor allem beim IIC mit dessen amerikanischen Gründern.