Machine Learning 2020

Innovationsbooster maschinelles Lernen

30.06.2020
Von 
Bernd Reder ist freier Journalist und Autor mit den Schwerpunkten Technologien, Netzwerke und IT in München.
Machine Learning dient vielen Unternehmen als eine Art Innovationsturbo, der die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle entscheidend voranbringt.
Viele Unternehmen in Deutschland haben das innovative Potenzial von Machine Learning erkannt - die IDG-Research-Studie "Machine Learning 2020" belegt.
Viele Unternehmen in Deutschland haben das innovative Potenzial von Machine Learning erkannt - die IDG-Research-Studie "Machine Learning 2020" belegt.
Foto: lassedesignen - shutterstock.com

Mit maschinellem Lernen (ML) dürften die meisten Menschen bereits einmal in Kontakt gekommen sein. Auf entsprechende Algorithmen greifen beispielsweise Lösungen für die Sprach- und Bilderkennung zurück. Sprachassistenten, Chat-Bots und Empfehlungs-Engines von E-Commerce-Plattformen würden daher ohne Maschine Learning nicht funktionieren. Auch bei der Analyse von Prozessen und deren Optimierung spielt ML eine wichtige Rolle. Daher stufen Forscher und natürlich die Anbieter entsprechender Lösungen maschinelles Lernen als Zukunftstechnologie ein.

Diese Erkenntnis ist offenkundig auch bei Anwendern in Deutschland angekommen, wie die Studie "Machine Learning 2020" von IDG Research Services in Kooperation mit Lufthansa Industry Solutions und A1 Digital belegt. So haben mittlerweile rund 73 Prozent der Unternehmen ML-Projekte gestartet. Im Vergleich zur Untersuchung von 2019 sind das fast 20 Prozent mehr. Vor allem größere Firmen mit 1.000 und mehr Beschäftigen haben dabei eine Vorreiterrolle übernommen: An die 40 Prozent von ihnen setzen bereits eine ganze Reihe von Machine-Learning-Lösungen ein. Das überrascht nicht sonderlich. Denn Großunternehmen verfügen in der Regel über das nötige Geld, Stichwort IT-Budget, und die erforderlichen personellen Ressourcen, um solche Vorhaben zu starten. Allerdings hat auch der Mittelstand den Wert von maschinellem Lernen erkannt. Fast 30 Prozent der Firmen nutzen die Technologie in mehreren Bereichen, und fast ebenso viele haben erste Machine-Learning-Lösungen im Einsatz.

Fast drei Viertel der Unternehmen in Deutschland nutzen bereits maschinelles Lernen oder planen den Einsatz dieser Technologie.
Fast drei Viertel der Unternehmen in Deutschland nutzen bereits maschinelles Lernen oder planen den Einsatz dieser Technologie.
Foto: IDG Research Services: Patrick Birnbreier

Niedrig hängende Früchte ernten …

Aus Sicht der Anwender erfreulich ist, dass Machine-Learning-Projekte keine lange Vorlaufzeit benötigen, bis sie zählbare Vorteile bringen, so die Studie von IDG Research. Rund 71 Prozent der Unternehmen registrierten nach spätestens drei Monaten positive Effekte, an die 22 Prozent der Befragten bereits sofort nach dem Einsatz von ML-Tools. Als Maßstab für den Erfolg eines Projekts gelten in erster Linie zwei Kriterien:

• eine Steigerung der Produktivität der Beschäftigten (52 Prozent) sowie

• die Reduzierung von Kosten (49 Prozent).

Mit deutlichem Abstand folgen Faktoren wie ein höherer Umsatz und eine bessere Qualität von Produkten und Services (rund 31 Prozent). Strategische Ziele, wie ein höherer Innovationsgrad oder die Entwicklung neuartiger Angebote, rangieren weiter hinten.

Zur Studie "Machine Learning 2020"

Eine mögliche Erklärung für diese Ergebnisse ist, dass sich Unternehmen zunächst darauf konzentrieren, die "Low-Hanging Fruits" einzusammeln, also schnelle Erfolge zu erzielen. Dies ist nachvollziehbar. Denn überzogene Erwartungen seitens der Geschäftsführung und Fachabteilungen führen häufig dazu, dass sich schnell Enttäuschung breitmacht, wenn eine neue Technologie vermeintlich nicht den erhofften Nutzen bringt.

Die Anbieter von Künstliche-Intelligenz (KI) und Machine-Learning-Lösungen sowie Beratungsfirmen empfehlen deshalb, ein "Erwartungsmanagement" einzuführen. Es soll sicherstellen, dass alle Projektbeteiligten, von der IT-Abteilung über die Fachabteilungen bis hin zur Geschäftsführung, gewissermaßen auf dem Teppich bleiben. Das heißt, die Beteiligten definieren gemeinsam realistische Ziele, die mithilfe von maschinellem Lernen erreicht werden sollen. Gleiches gilt für die Umsetzung in die Praxis: Besser ist eine Politik der kleinen Schritte als der Versuch, mit allzu ambitionierten Projekten umgehend durchschlagende Erfolge zu erzielen.

… aber nicht zu „klein“ denken!

Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Unternehmen darauf beschränken sollten, mithilfe von Machine Learning bestehende Abläufe zu optimieren. Zwar ist dies laut der Studie für 56 Prozent der Befragten das wichtigste Ziel von ML-Projekten. Doch fast die Hälfte (45 Prozent) sieht in maschinellem Lernen zudem ein Tool, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. An die 44 Prozent wollen mithilfe der Technologie die Palette ihrer Produkte und Services erweitern. Dabei dürften digitale Angebote eine zentrale Rolle spielen.

Mithilfe von maschinellem Lernen wollen Unternehmen bestehende Prozesse verbessern, aber auch neue Geschäftsmodelle und Angebote entwickeln.
Mithilfe von maschinellem Lernen wollen Unternehmen bestehende Prozesse verbessern, aber auch neue Geschäftsmodelle und Angebote entwickeln.
Foto: IDG Research Services: Patrick Birnbreier

Zu denken gibt jedoch, dass diese strategische Sicht auf Machine Learning vor allem in großen Unternehmen mit 1.000 Mitarbeitern und mehr ausgeprägt ist. Der Mittelstand und kleinere Betriebe haben in diesem Punkt einen erheblichen Nachholbedarf. Ein Beispiel: Nur gut 29 Prozent der mittelständischen Firmen sehen in ML ein Mittel, neue Angebote zu entwickeln, dagegen 55 Prozent der großen Unternehmen. Diese Diskrepanz ist aus zwei Gründen problematisch: wegen des Digitalisierungsdrucks, dem sich Unternehmen jeder Größe ausgesetzt sehen, und wegen der Tatsache, dass der Mittelstand nach wie vor das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bildet. Ein Umdenken ist somit bei mittelständischen Firmen dringend geboten.

Business-Entscheider vs. CIOs

Apropos strategische Bedeutung von maschinellem Lernen: Ein Ergebnis der Studie deutet darauf hin, dass Geschäftsführer und andere Business-Entscheider verstärkt die zentrale Verantwortung für solche Vorhaben an sich ziehen. In 37 Prozent der Unternehmen haben sie bereits die Leitung übernommen; in rund 45 Prozent der Firmen sind es Führungskräfte aus dem IT- und Technikbereich, etwa der Chief Information Officer (CIO), der Chief Digital Officer (CDO) oder der Chief Technology Officer (CTO). Im Vergleich zur Studie von 2019 sank der Anteil der "Techniker" jedoch um fünf Prozent. Dies ist ein Indiz dafür, dass Manager die Bedeutung von maschinellem Lernen erkennen, etwa als Baustein der Digitalisierung.

Eine lediglich untergeordnete Rolle bei ML-Projekten spielen dagegen die Fachbereiche. Nur in 15 Prozent der Unternehmen stellen sie den zentral Verantwortlichen bei solchen Vorhaben. Umso wichtiger ist es, dass Firmen einen umfassenden Austausch von Informationen und Erfahrungen über die Grenzen von Abteilungen hinweg sicherstellen. Denn die Anforderungen der Fachabteilungen an eine Machine-Learning-Lösung sollten berücksichtigt werden. Schließlich sind es deren Mitarbeiter, die letztlich mit solchen Werkzeugen arbeiten.

Zur Studie "Machine Learning 2020"

Machine-Learning-Fail-Faktoren

Doch Anwender müssen sind nicht nur die Kommunikationswege oder die Qualität eines Machine-Learning-Modells berücksichtigen. Das größte Problem ist der Mangel an allgemeinem Know-how (39 Prozent) in Bezug auf maschinelles Lernen. Doch auch zu strikte Datenschutzvorgaben (35 Prozent) und die unzureichende Qualität der Input-Daten (22 Prozent) werden als Stolpersteine angeführt. Hinzu kommen "weiche Faktoren" wie eine unpassende Unternehmenskultur (22 Prozent).

Bemerkenswert - und bedenklich - ist, dass die Abteilungen zu stark unterschiedlichen Einschätzungen kommen, was die größten Hemmschwellen betrifft. So sehen Geschäftsführer im Datenschutz und in den Compliance-Anforderungen ein Problem (51 Prozent), IT-Fachleute dagegen in fehlenden Kenntnissen in den Bereichen Programmieren (28 Prozent) und Statistik (26 Prozent). Die Fachbereiche wiederum führen das mangelnde Know-how (39 Prozent) und die mangelhafte Qualität der Datenbestände (32 Prozent) ins Feld. Diese Diskrepanzen deuten darauf hin, dass die einzelnen Bereiche Machine Learning nur aus Sicht ihrer Abteilung betrachten. Ein Verständnis für den Gesamtzusammenhang ist offenkundig unterentwickelt.

Beheben lassen sich solche Defizite mithilfe von Projektteams, in denen Mitglieder der diversen Abteilungen und Fachbereiche zusammenarbeiten. Solche interdisziplinären Arbeitsgruppen können dazu beitragen, die Bildung von Informations-Silos zu vermeiden. Hilfestellung geben dabei gegebenenfalls externe Berater und IT-Service-Provider, indem sie die Rolle einer neutralen Fachinstanz übernehmen.

Die größten Hürden sehen Unternehmen bei dem Know-How-Mangel allgemein und den Datenschutzvorgaben.
Die größten Hürden sehen Unternehmen bei dem Know-How-Mangel allgemein und den Datenschutzvorgaben.
Foto: IDG Research Services: Patrick Birnbreier

Wie wichtig Dienstleister sind

Doch IT-Dienstleister sind nicht nur als Mediatoren gefragt. Vielmehr bringen sie das Fachwissen und die Machine-Learning-Spezialisten mit ein, über die Anwender oft nicht verfügen. Das dürfte der Grund dafür sein, dass zwei Drittel der Unternehmen im Bereich ML mit externen Dienstleistern zusammenarbeitet. Die Mehrzahl davon greift sogar auf zwei bis fünf ML- und KI-Spezialisten zurück.

Das bedeutet aber nicht, dass die Anwender die Oberhoheit über solche Projekte abgeben. Etwas mehr als die Hälfte behält die Federführung und greift bei Bedarf auf externe Hilfe zu. Nur 15 Prozent haben das Thema Machine Learning komplett an externe Unternehmen ausgelagert. Auch dieses Ergebnis der Studie ist nachvollziehbar. Denn für einen Großteil der befragten Unternehmen ist es wichtig, eigenes Know-how auf einem zukunftsträchtigen Feld wie ML aufzubauen.

Unter dem Strich zeichnet die Studie von IDG Research Services ein Bild, das Hoffnung macht. Deutsche Unternehmen haben offenbar den Stellenwert von Machine Learning und Nachbardisziplinen wie künstlicher Intelligenz und Deep Learning erkannt. Das belegt die Zahl der Firmen, die ML bereits einsetzen, und das mit Erfolg. Doch diese positiven Signale sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch einiges zu tun ist. Interessanterweise gilt das nicht nur für Bereiche wie den Aufbau von Know-how und die Optimierung der Datenbestände, die maschinelles Lernen benötigt.

Ein wesentlicher Punkt betrifft die Kommunikation und die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen und Führungsebenen. Althergebrachte Hierarchien und Informations-Silos erweisen sich offenkundig als Hemmschwellen bei der Umsetzung von Machine-Learning-Projekten. Unternehmen sollten daher nicht nur einen Blick auf die technischen Herausforderungen werfen, die mit der Nutzung von maschinellem Lernen verbunden sind. Es gilt auch die Unternehmenskultur und die innerbetrieblichen Kommunikationsstrukturen auf den Prüfstand zu stellen.

Zur Studie "Machine Learning 2020"

Die aktuelle Studie "Machine Learning 2020" gibt es jetzt auch im COMPUTERWOCHE Studienshop.
Die aktuelle Studie "Machine Learning 2020" gibt es jetzt auch im COMPUTERWOCHE Studienshop.
Foto: sdecoret / shutterstock.com

Studiensteckbrief

Herausgeber: COMPUTERWOCHE, CIO, TecChannel und ChannelPartner

Gold-Partner: Lufthansa Indutry Solutions

Silber-Partner: A1 Digital

Grundgesamtheit: Oberste (IT-)Verantwortliche von Unternehmen in der D-A-CH-Region: strategische (IT-)Entscheider im C-Level-Bereich und in den Fachbereichen (LoBs), IT-Entscheider und IT-Spezialisten aus dem IT-Bereich

Teilnehmergenerierung: Stichprobenziehung in der IT-Entscheider-Datenbank von IDG Business Media; persönliche E-Mail-Einladungen zur Umfrage

Gesamtstichprobe: 406 abgeschlossene und qualifizierte Interviews

Untersuchungszeitraum: 17. bis 25. Februar 2020

Methode: Online-Umfrage (CAWI)

Fragebogenentwicklung: IDG Research Services in Abstimmung mit den Studienpartnern

Durchführung: IDG Research Services