Pilot Purgatory – das Fegefeuer der Pilotprojekte

Industrie 4.0: Testphase als Dauerzustand verhindern

13.02.2019
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Andreas Behrendt ist Partner bei der Unternehmens- und Strategieberatung McKinsey. Er ist Spezialist für Digitale Produktion und leitet die gleichnamige Sparte.
Pilotprojekte gibt es im Bereich „Digitale Fertigung/Industrie 4.0“ viele. Sie schaffen es aber nur selten in die breite Anwendung. Die betroffenen Unternehmen unterscheiden sich je nach Branche stark voneinander. Wenn es um die digitale Transformation geht, machen sie aber häufig die gleichen Fehler.
Die digitale Fertigung gilt als effizienter und kostengünstiger als ihr analoges Pendant. Doch viele Pilotprojekte werden im Alltag nie Realität.
Die digitale Fertigung gilt als effizienter und kostengünstiger als ihr analoges Pendant. Doch viele Pilotprojekte werden im Alltag nie Realität.
Foto: Zapp2Photo - shutterstock.com

Die digitale Fertigung ist effizienter, flexibler und kostengünstiger als ihr analoges Pendant. Wenn es um die Vorteile der Smart Factory und des Industrial Internet of Things (IIoT) geht, sind sich die Verantwortlichen in den produzierenden Unternehmen weltweit einig. Instandhaltungskosten und Ausfallzeiten von Maschinen können reduziert und die Produktion gesteigert werden. Gut Zweidrittel der Industrieunternehmen geben laut der aktuellen Digital McKinsey Studie an, dass die Umstellung auf eine digitale Produktion für sie höchste Priorität hat. Das gilt für Deutschland genauso wie für andere Industrienationen. Und der deutlich überwiegende Teil der Unternehmen sieht sich diesbezüglich auch schon gut aufgestellt. Die meisten Betriebe sind davon überzeugt, dass sie es in Sachen Industrie 4.0 mit der Konkurrenz aufnehmen können oder sogar Vorreiter in ihrer Branche sind.

Bislang hapert es an der Umsetzung

Tatsächlich kann die Industrie auf diesem Gebiet einige Erfolge vermelden. Die Mehrheit der Firmen hat bereits Pilotprojekte gestartet - etwa im Bereich Industriual Internet of Things (IIoT). Bis hierhin stimmt die Selbsteinschätzung der Unternehmen also mit der Realität überein. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es trotz der vielen Pilotprojekte nur sehr selten zu einer konkreten Anwendung im Unternehmen kommt. Den Betrieben gelingt es nicht, die Projekte nach der Testphase zügig in den Arbeitsalltag zu integrieren. Sie bleiben im sogenannten "Pilot Purgatory", dem "Fegefeuer der Pilotprojekte", hängen - und zwar oft für einen beachtlichen Zeitraum von einem bis zwei Jahren.

IIoT-Plattformen als Schaltzentrale

Viele gute Ideen bleiben im sogenannten „Pilot Purgatory“, dem „Fegefeuer der Pilotprojekte“, hängen - und zwar oft für einen beachtlichen Zeitraum von einem bis zwei Jahren
Viele gute Ideen bleiben im sogenannten „Pilot Purgatory“, dem „Fegefeuer der Pilotprojekte“, hängen - und zwar oft für einen beachtlichen Zeitraum von einem bis zwei Jahren
Foto: Pablo Prat - shutterstock.com

Smarte Maschinen können schneller, präziser, kostengünstiger und effizienter arbeiten als klassische Anlagen. Und: sie können sich gegenseitig steuern, sodass es zum Beispiel zu weniger Störungen im Produktionsablauf kommt. Damit das umsetzbar ist, werden IIoT-Plattformen als eine Art Schaltzentrale immer wichtiger. Diese stellen Anwendungen zur Verfügung, die die vernetzten Geräte überwachen, managen und kontrollieren. Sie können Probleme beheben, wie etwa das Herausziehen und Verbinden von Daten aus einem riesigen und oftmals schwer erschließbaren Pool. Das Industrielle Internet der Dinge ist somit auch der Schlüssel zu neuen kundenorientierten und ertragssteigernden Geschäftsmodellen. Hier hapert es aber häufig an der Umsetzung: 84 Prozent der Unternehmen mit IIoT-Piloten geben an, dass sie in der Testphase für mehr als ein Jahr steckenbleiben. Ist ein erster Reifegrad erreicht, ist der nächste Knackpunkt daher die Skalierbarkeit. Oder anders gesagt: die Technik stimmt bereits, aber die Verankerung in der Unternehmensstrategie ist noch zu gering.

Digitale Fähigkeiten testen und umsetzen – vor Ort

Fast alle produzierenden Unternehmen müssen ihre Produktion digitalisieren. Doch viele haben keine klare Strategie, verharren in unkoordinierten Pilotprojekten oder scheuen die Kosten neuer Maschinen oder Prozesse. Dort setzen digitale Lernfabriken an. Der Ansatz: ausprobieren und umsetzen statt sitzen und zuhören. Denn viele Unternehmen sind häufig überrascht, wie gut sich mit geringem digitalen Aufwand eine Produktion entscheidend verbessern lässt. Ein Beispiel dafür ist das Digital Capability Centre (DCC) in Aachen, das McKinsey 2017 gemeinsam mit der ITA academy gegründet hat: In der Lernfabrik fertigen Mitarbeiter in einem realistischen Mix aus alten und neuen Maschinen über alle Produktionsstufen ein Textilarmband mit RFID-Chip. Immer wieder tauchen dabei klassische technische Probleme auf. Mit Hilfe der Experten entwickeln die Teilnehmer dann dafür digitale Lösungen. Neben Lernfabriken gibt es auch das Konzept der „Modelfabrik in a Box“: In der Produktion eines Unternehmens werden dabei vor Ort Tools für Testläufe installiert.

Drei Bereiche von Anwendungsfällen

In der Summe zeigt sich: Die Bandbreite der Anwendungen in der digitalen Fertigung ist bei den Unternehmen groß. So groß wie das Spektrum, ist auch der Anteil von Pilotprojekten. Diese lassen sich aktuell in die folgenden drei Bereiche einteilen:

  • Konnektivität

Unter diesen Bereich fallen Anwendungen, die den Fluss von relevanten Informationen an die richtigen Entscheidungsträger in Echtzeit durchführen oder erleichtern. Dazu gehören etwa das digitale Leistungs-Management und die Verwendung von Augmented Reality zur Kommunikation von interaktiven Arbeitsanweisungen und Standardanweisungen. 64 Prozent der Unternehmen weltweit geben an, dass sie hier noch in der Pilotphase sind und erst 23 Prozent haben mit der Umsetzung begonnen.

  • Künstliche Intelligenz

Hier geht es um Anwendungen rund um Analytics und Prognosen oder auch um den digitalen Zwilling von Produkten oder Prozessen. Somit werden neue Erkenntnisse gewonnen und bessere Entscheidungen getroffen. Beispiele sind vorbeugende Wartung, digitales Qualitätsmanagement und KI-gesteuerte Bedarfsprognosen. Dieser Bereich ist mit 70 Prozent besonders häufig in der Testphase, gleichzeitig haben 29 Prozent bereits mit dem Rollout begonnen.

  • Flexible Automatisierung

Hier wird Robotik eingesetzt, um Qualität, Sicherheit und betriebliche Prozesse zu verbessern. Beispiele sind autonome Fahrzeuge oder Exoskelette und die Verwendung von Cobots für Montageprozesse, also kollaborative Roboter, die mit dem Menschen gemeinsam arbeiten. In diesem Bereich stecken 61 Prozent der Unternehmen noch in der Testphase und erst 24 Prozent haben mit der Umsetzung begonnen.

Letztlich sind sich die meisten deutschen Unternehmen einig, dass die Zeit der Umsetzung gekommen ist. Nur etwa ein Viertel der deutschen Unternehmen glaubt, dass sie ihren Wettbewerben voraus sind und rund ein Drittel glaubt, dass sie mit den Wettbewerbern auf Augenhöhe sind. Im Vergleich dazu sind chinesische Unternehmen optimistischer - etwas mehr als die Hälfte glaubt, dass sie vor ihren Wettbewerbern liegen.

Doch warum schaffen es so viele Projekte nicht aus der Testphase heraus? Wenn es um den digitalen Wandel geht, machen die Firmen häufig die gleichen Fehler. Und nur selten liegt es am mangelnden technischen Know-how. Meist sind es viel mehr organisatorische oder strategische Gründe, die die Digitalisierung der Produktion verhindern.