Cisco-Chef Uwe Peter im Interview

"Ich sehe eine Digitalisierung der zwei Geschwindigkeiten"

07.09.2022
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
Nachhaltigkeit und Digitalisierung zählen zu den großen Herausforderungen der deutschen Industrie. Im Interview diskutieren wir mit Cisco-Chef Uwe Peter, wo die deutschen Unternehmen stehen.
Uwe Peter, Geschäftsführer Cisco Deutschland, diskutiert im CW-Gespräch darüber, woran es bei der Digitalisierung in Deutschland hapert.
Uwe Peter, Geschäftsführer Cisco Deutschland, diskutiert im CW-Gespräch darüber, woran es bei der Digitalisierung in Deutschland hapert.
Foto: Cisco

Herr Peter wo stehen die deutschen Unternehmen in Sachen Digitalisierung?

Uwe Peter: Ich sehe eine Digitalisierung der zwei Geschwindigkeiten und eine Zweiteilung, die sich zunehmend verstärkt. Wenn wir über Digitalisierung sprechen, sollten wir zwischen linearer und disruptiver Digitalisierung unterscheiden. Und bei der linearen Digitalisierung, etwa in der Produktion, kommt Deutschland sehr gut voran.

Woran machen Sie das fest?

Peter: Als ein Gradmesser wird hierzu häufig der Ausbau mit 5G und mit Private 5G genannt. Aus meiner Sicht ist es jedoch viel entscheidender, wie die neueste WLAN-Generation im Markt ankommt, sprich in den Fabriken installiert wird - Stichwort WiFi 6. und hier geht es mit Lichtgeschwindigkeit voran. So verkaufen wir in Deutschland momentan knapp 100.000 WiFi-6-Access-Points pro Quartal. Das veranschaulicht, mit welcher Geschwindigkeit die Deutsche Industrie ihre Fabriken ausrüstet. In meinen Augen geben diese Unternehmen ganz klar international den Takt vor. Und dazu zählt auch, dass die Prozesse in den Fabriken mit einer wirklich großen Geschwindigkeit digitalisiert werden und da sind die deutschen Unternehmen Weltmarktführer.

"Deutschland schafft es nicht, den Abstand zu verkürzen"

Sie liefern knapp hunderttausend Access Points pro Quartal aus, in der Öffentlichkeit wird aber 5G als das Zukunftsnetz für die Digitalisierung der Industrie propagiert. Wie erklären Sie sich das?

Peter: Zunächst sind das komplementäre Technologien, die auf der Luftschnittstelle und auf der Modulationsebene fast identisch sind. Das heißt, 5G und WiFi 6 haben sehr ähnliche Leistungscharakteristika. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch im Betriebskonzept. Aus unserer Sicht ermöglicht WiFi 6 ein direktes Upgrade von WiFi 5. Und WiFi 5 finden sie heute fast in allen Fabriken und Büroräumen. Der Anwender kann also auf eine existierende WLAN-Infrastruktur aufbauen und muss lediglich seine WiFi-5-Access-Points gegen neuere WiFi-6-Modelle austauschen. Das ganze Betriebskonzept des WLANs wird dabei nicht verändert.

Und das ist der Unterschied zu 5G. Auch ein Private-5G-Netz muss betrieben werden, nur ist die Technik für Service-Provider konzipiert und weitaus komplizierter und komplexer. Deswegen gibt es ja auch viele Service-Provider, die Private 5G als Managed Service offerieren.

Natürlich hat Private 5G seine Berechtigung. Die Technik ist etwa für große Industriefirmen, die im Outdoor-Bereich, also außerhalb der Fabrikhallen, eine Abdeckung brauchen, interessant. Aber die Adaption schreitet wesentlich langsamer voran, da ein WiFi-Access-Point einfach schneller ausgetauscht ist. Ich bin mir durchaus bewusst, dass die öffentliche Wahrnehmung eine andere ist, weil 5G eben auch im Consumer-Bereich wichtig ist und 5G deshalb von jedem Consumer wahrgenommen wird.

Top bei der linearen Digitalisierung hat Deutschland Nachholbedarf bei der disruptiven Digitalisierung.
Top bei der linearen Digitalisierung hat Deutschland Nachholbedarf bei der disruptiven Digitalisierung.
Foto: Gorodenkoff - shutterstock.com

Und wie steht es um den zweiten Digitalisierungsaspekt, die disruptive Digitalisierung?

Peter: Tja, das ist die schwierige Seite. Unter disruptiver Digitalisierung verstehe ich, neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln. Hier ist Deutschland seit längerem ein Nachzügler und schafft es nicht, den Abstand zu verkürzen. In meinen Augen brauchen wir dringend eine Digitalisierungs-Offensive. Und das betrifft sowohl Wagniskapital als auch die IT-Breitenbildung. Wir brauchen deutlich mehr IT-Know-how in allen Branchen und gleichzeitig müssen die Branchen auch viel stärker die eigenen digitalen Möglichkeiten verinnerlichen. Daran mangelt es überall in Deutschland, egal, wo man hinschaut.

Sie bemängeln das fehlende Risikokapital und die IT-Breitenbildung. Mit Blick auf die USA glaube ich aber, dass wir ein ganz anderes Problem haben. Uns fehlen die entsprechenden Geschäftsmodelle, also etwa eine Shared Economy oder digitale Marktplätze.

Peter: Da stimme ich Ihnen absolut zu. Zur disruptiven Digitalisierung gehören für mich digitale Produkte, Services und Geschäftsmodelle. Diesbezüglich haben die Amerikaner eine andere Mentalität, gepaart mit einer IT-Grundbildung. Für mich gehören IT-Grundkenntnisse in der Schule genauso auf den Lehrplan wie naturwissenschaftliche Grundkenntnisse in Biologie, Chemie und Physik. Mit Blick auf unsere Innovationskraft würde es uns sehr guttun, wenn jeder von uns den Digitalisierungsaspekt irgendwie im Hinterkopf hätte. Dazu brauchen wir ein breites IT-Know-how, doch das Gegenteil ist der Fall, die Situation verschärft sich gerade.

Wir haben in der deutschen IT-Industrie rund knapp 1,3 Millionen Arbeitsplätze und über hunderttausend offene Stellen. Das entspricht einer Überbeschäftigung von acht Prozent. Strukturell wird dies zusätzlich nochmal verschärft, weil jetzt die Fertigungsindustrie mit ihren ungefähr fünf Millionen angestellten Mitarbeitern kommt und das gleiche IT-Know-how auf dem Arbeitsmarkt sucht. Wenn wir so weitermachen, werden wir nicht in der Lage sein, unsere Produkte, bei denen wir Weltmarktführer sind, zu digitalisieren - von neuen digitalen Geschäftsmodellen ganz zu schweigen. Deshalb betone ich die Bedeutung der IT-Ausbildung im Zusammenhang mit der Digitalisierung so stark.

"Wir brauchen IT-Grundverständnis"

Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, aber in einem Punkt möchte ich ihnen widersprechen. Ein breites IT-Grundverständnis konnte ich auf meinen USA-Reisen nicht entdecken. Ich gewann eher den Eindruck, dass die breite Masse zwar weiß, welche Tasten sie am Computer drücken muss, aber ein grundsätzliches Verständnis für die Arbeitsweise der Maschine fehlt.

Peter: Ich bin natürlich oft im Silicon Valley unterwegs. Dabei fällt mir immer wieder auf, dass, wenn wir in Deutschland ins Flugzeug steigen, alle eine "Auto Motor und Sport" oder andere schöne Zeitschriften in der Hand haben. In San Jose haben dann alle IT-Zeitungen in der Hand. Sicher, das Silicon Valley steht nicht für die gesamte USA, aber Kalifornien ist ein wesentlicher Teil dieser Industrie. Zudem gibt es genug Zustrom an guten Arbeitskräften, um aus diesem Cluster heraus die amerikanische Wirtschaft immer wieder mit innovativer IT und digitalen Geschäftsideen zu versorgen. Das fehlt uns in Deutschland. Wir haben unsere IT-Industrie langsam, aber sicher über die letzten Jahrzehnte abgebaut. Wir haben keine Cluster, wo IT-Know-how in dieser Breite produziert wird wie in den USA. Das haben wir in der Fertigungsindustrie oder im Automobilbereich, aber wir müssen uns Gedanken machen, wie wir in diese Cluster viel breiter IT-Know-how hineinbringen, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen.

Dem möchte ich etwa die Idee des Quantum Valley Lower Saxony entgegenhalten, oder die Idee der bayrischen Lederhosenfreunde vom Bavarian Silicon Valley. Oder die Rolle Berlins als einer der Start-up-Hubs Europas.

Peter: Ja, natürlich gibt es positive Beispiele, wie Sie sie anführen. Nur mir geht es darum, dass wir etwas in der Breite tun müssen und früher im Bildungswesen ansetzen, um dieses Grundverständnis von IT und Digitalisierung zu fördern. Blicken wir doch einmal 20 bis 30 Jahre zurück. Wir hatten unheimlich gut ausgebildete Ingenieure, denen aber die klassischen BWL-Grundkenntnisse fehlten. In der Folge entstand der Studiengang des Wirtschaftsingenieurs. Eine solche Kombination in Verbindung mit IT brauchen wir jetzt für die Zukunft, um unsere Kernstärken in das neue digitale Zeitalter zu überführen.

Also eine kombinierte Ausbildung?

Peter: Ja, nur sollten wir damit schon in der Schule beginnen. IT ist für mich wie die Logistik eine Querschnittstechnologie. Um Deutschland zu digitalisieren und auf einen nachhaltigen Weg zu bringen, müssen wir unsere Prozessketten Ende zu Ende nachhaltig designen und digitalisieren. Und wir dürfen das Thema Cybersecurity nicht vergessen. Hier brauchen wir ein Grundverständnis dafür, wie wir unsere industriellen Anlagen in Deutschland schützen wollen, denn die Zahlen des Vereins der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) sind erschreckend. So haben 40 Prozent seiner Mitglieder die Cyberattacken erfahren haben auch Produktionsausfälle zu vergemelden. Über den dabei möglichen Know-how-Abfluss wollen wir erst gar nicht reden. Deshalb brauchen wir dieses IT-Grundverständnis.

Ein IT-Grundverständnis muss bereits in der Schule gefördert werden.
Ein IT-Grundverständnis muss bereits in der Schule gefördert werden.
Foto: Gorodenkoff - shutterstock.com

Sie fordern ein IT-Grundverständnis. Aber macht die IT-Branche nicht genau das Gegenteil und gaukelt den Leuten vor, dass alles immer einfacher wird und sie kein IT-Know-how bräuchten, wie etwa im Apple-Ökosystem?

Peter: Wir müssen die Komplexität der Lösungen natürlich vor den Mitarbeitern verstecken, die sie nicht brauchen. Ich plädiere dafür, dass die Menschen über die Möglichkeiten der IT Bescheid wissen. Was ist mit IT machbar? Nehmen Sie Siemens als Beispiel. Der Konzern will 30 Prozent seiner Fabriken weltweit automatisieren und dazu seine Schnittstellen öffnen, damit sie ein ganzes Ecosystem an Entwicklern anschließen können, um diese Automatisierung voranzutreiben.

In letzter Konsequenz werden dabei ganze Industriezweige miteinander vernetzt und das erfordert ein massives Grundverständnis von dem, was mit IT möglich ist - und zwar branchenübergreifend. Sicher wird man die offenen APIs möglichst einfach gestalten und Apps ohne tiefgehende Programmierkenntnisse mit Low Code oder No Code entwickeln können. Aber ein IT-Grundverständnis braucht man überall. Am Ende ist der entscheidende Faktor für die Zukunft, ob ein Unternehmen in der Lage ist, sich der IT zu bedienen oder nicht.

"Die IT ist eine Schlüsselbranche für Nachhaltigkeit"

Sie sprachen vorhin von einem nachhaltigen Weg. Welchen Wertbeitrag kann die IT zur Nachhaltigkeit beitragen?

Peter: Dazu gibt es eine interessante Bitkom-Studie. Danach können wir 58 Prozent der benötigten CO2-Einsparungen, um unsere Klimaziele für 2030 zu erreichen, mit Hilfe der Digitalisierung erzielen, indem man jeden Prozess Ende zu Ende nachhaltig und digital denkt. Damit ist die IT eine Schlüsselbranche für die Nachhaltigkeit, ähnlich wie vielleicht die Logistik, weil sie wirklich in allen Bereichen vorkommt. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass auch die IT Energie benötigt.

Ciscos Nachhaltigkeitsprinzip.
Ciscos Nachhaltigkeitsprinzip.
Foto: Cisco

Nehmen als Beispiel etwa die Bitcoin-Infrastruktur. Nach vorsichtigen Schätzungen verbraucht diese so viel Energie wie das Land Rumänien, aggressivere Berechnungen kommen zu dem Ergebnis, dass der Verbrauch dem von Polen entspricht. Oder anders formuliert, ist die IT ebenfalls ein riesiger Konsument von Energie. So kommt die Bitkom-Studie auch zu dem Ergebnis, dass der Nettoeffekt der Digitalisierung nur bei 49 Prozent liegt. Denn durch die Digitalisierung entstehen zusätzliche neun Prozent CO2. Das zeigt, vor welchen Herausforderungen die Industrie steht und warum wir ein massives Augenmerk auf den Energieverbrauch der Geräte legen müssen.

Und das bedeutet jetzt für die IT-Devices konkret?

Peter: Ich bin davon überzeugt, dass wir bei den IT-Devices deutlich kürzere Austauschzyklen erleben werden - ich gehe so von drei bis vier Jahren aus. Und nicht, weil die neuen Geräte leistungsfähiger sind, sondern weil ihr Energieverbrauch drastisch geringer ist, so dass sich der Austausch alleine schon aufgrund des Stromverbrauchs rechnet. Nehmen Sie etwa unsere Access-Produkte, bei denen wir den Verbrauch um rund 50 Prozent reduzieren konnten. Über seine Lebenszeit verbraucht ein Access-Device in der digitalen Fabrik in etwa das Äquivalent von 10.000 Tonnen Kohlendioxid.

Tauschen sie dieses gegen ein aktuelles Modell aus, dann sparen sie 5.000 Tonnen CO2 - das ist gewaltig. Bevor jetzt das Argument kommt, dass wir zwar auf der einen Seite Energie einsparen, aber auf der anderen Seite einen riesigen Müllberg aufbauen; wir recyceln konsequent. Zudem sorgen wir mit unserem Green-Pay-Modell dafür, dass Altgeräte zurückgeführt werden und der Kunde erhält dafür fünf Prozent Rabatt beim Kauf neuer Hardware. Unsere interne Recyclingquote liegt bei über 99 Prozent, also 99 Prozent der Materialien werden wiederverwertet. Mit dem drastisch gesenkten Energieverbrauch und unserem Recyclingkonzept leisten wir einen signifikanten Beitrag zum Klimaschutz.